Leben wir heutzutage in einem Kastensystem?
Wenn man wenig über Indien weiß, sieht man gerne mit einem herablassenden Schnauben auf das Land und sagt, „Ja, aber die haben ja das Kastensystem.“ Oft weiß man dann nicht genau, was denn das Kastensystem ist oder warum es denn so sozial verpönt ist (Ungleichheit, meint man, den Erzfeind eines sozialen Bürgers), aber die bloße Existenz davon reicht schon um sich aufs hohe Ross zu schwingen.
Ist das Kastensystem gut oder schlecht? Ist es Ursache oder Symptom sozialer Ungleichheit? Die schnelle Antwort ist immer beides, eine tiefgreifendere Antwort sprengt den Rahmen jedes Artikels.
Aber die Frage, die hier aufgeworfen werden soll ist jene: Leben wir in einem Kastensystem? Wir, die fortschrittlichen Westler? Europäer? Nicht jetzt bloß die Briten (deren rigides Ständesystem, apropos, hat auch einiges zur Ausbildung des indischen Kastensystems in seiner negativsten Ausformung beigetragen), sondern auch wir Österreicher.
Die Antwort ist eigentlich recht einfach. Schauen Sie einen anderen Menschen an und positionieren sie ihn auf einer sozialen Leiter über oder unter Ihnen selbst oder vielleicht sogar auf gleicher Augenhöhe? Dreckige Schuhe, feine Hemden, offene Schnürsenkel, unrasiert, lange Haare, Hipster, Bänker, Zuckerbäcker?
Wenn Sie das machen, dann, ja, willkommen. Sie leben in einem Kastensystem.
Aber das machen doch alle, mögen Sie sagen. Na ja, dann leben wohl Ihrer Definition nach nicht nur Sie selbst, sondern alle in einem Kastensystem. Alle behandeln einen Müllmann anders als einen Chefkoch. Einen Bettler anders als einen Arzt.
Alle gleich zu behandeln heißt hier freilich nicht, dass man dem Herrn Doktor brav eine Münze in den Hut wirft und Ivan auf der Strasse um eine Operation an der Hüfte bitten soll, nein, nein. Auch heißt es nicht, dass alles moralisch grau und morastig ist.
Kommt der Mensch vorher oder kommen seine statusgemäßen Signale vorher? Das heißt es. Besitzt man die Fähigkeit einen Anwalt als Menschen anzusehen oder nur als Funktion? Einen Bettler? Einen Immigranten?
Oder kann man nur in solchen Konzepten denken? Hat ein Mensch ohne die keine Identität, keine Gefühle, keine Daseinsberechtigung? Ist alles was man ist, an die äußere Erscheinung, an die amtlichen Bestätigungen und die (oft vielleicht gelangweilt oder verwirrt) verbrachte Ausbildung gebunden?
Ja?
Dann, ja, dann leben wir in einem Kastensystem und aus dem gibt es ein Entkommen nur durch Kommunikation, Kreativität, Intelligenz und Vorstellungskraft.