Leben wir heutzutage in einem Kastensystem?

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Leben wir heutzutage in einem Kastensystem?

Wenn man wenig über Indien weiß, sieht man gerne mit einem herablassenden Schnauben auf das Land und sagt, „Ja, aber die haben ja das Kastensystem.“ Oft weiß man dann nicht genau, was denn das Kastensystem ist oder warum es denn so sozial verpönt ist (Ungleichheit, meint man, den Erzfeind eines sozialen Bürgers), aber die bloße Existenz davon reicht schon um sich aufs hohe Ross zu schwingen.

Ist das Kastensystem gut oder schlecht? Ist es Ursache oder Symptom sozialer Ungleichheit? Die schnelle Antwort ist immer beides, eine tiefgreifendere Antwort sprengt den Rahmen jedes Artikels.

Aber die Frage, die hier aufgeworfen werden soll ist jene: Leben wir in einem Kastensystem? Wir, die fortschrittlichen Westler? Europäer? Nicht jetzt bloß die Briten (deren rigides Ständesystem, apropos, hat auch einiges zur Ausbildung des indischen Kastensystems in seiner negativsten Ausformung beigetragen), sondern auch wir Österreicher.

Die Antwort ist eigentlich recht einfach. Schauen Sie einen anderen Menschen an und positionieren sie ihn auf einer sozialen Leiter über oder unter Ihnen selbst oder vielleicht sogar auf gleicher Augenhöhe? Dreckige Schuhe, feine Hemden, offene Schnürsenkel, unrasiert, lange Haare, Hipster, Bänker, Zuckerbäcker?

Wenn Sie das machen, dann, ja, willkommen. Sie leben in einem Kastensystem.

Aber das machen doch alle, mögen Sie sagen. Na ja, dann leben wohl Ihrer Definition nach nicht nur Sie selbst, sondern alle in einem Kastensystem. Alle behandeln einen Müllmann anders als einen Chefkoch. Einen Bettler anders als einen Arzt.

Alle gleich zu behandeln heißt hier freilich nicht, dass man dem Herrn Doktor brav eine Münze in den Hut wirft und Ivan auf der Strasse um eine Operation an der Hüfte bitten soll, nein, nein. Auch heißt es nicht, dass alles moralisch grau und morastig ist.

Kommt der Mensch vorher oder kommen seine statusgemäßen Signale vorher? Das heißt es. Besitzt man die Fähigkeit einen Anwalt als Menschen anzusehen oder nur als Funktion? Einen Bettler? Einen Immigranten?

Oder kann man nur in solchen Konzepten denken? Hat ein Mensch ohne die keine Identität, keine Gefühle, keine Daseinsberechtigung? Ist alles was man ist, an die äußere Erscheinung, an die amtlichen Bestätigungen und die (oft vielleicht gelangweilt oder verwirrt) verbrachte Ausbildung gebunden?

Ja?

Dann, ja, dann leben wir in einem Kastensystem und aus dem gibt es ein Entkommen nur durch Kommunikation, Kreativität, Intelligenz und Vorstellungskraft.

Von der Suche nach sich selbst

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Vor einigen Jahren las ich in einem Magazin oder Buch einen bemerkenswerten Satz. „Es ist schade,“ schrieb der Autor, „dass so viele Menschen hier [es handelte sich um Indien] nur auf der Suche nach sich selbst sind. Es gibt doch so viele interessante Dinge zu sehen. Die sehen die alle nicht.“

  Damals, vermutlich noch auf der Suche nach mir selbst, stieß ich mich heftig an dem Satz. Es war doch nicht schlecht nach sich selbst zu suchen und außerdem sieht man da doch so vieles usw. usw. Heute, mit Dreißig, weiß ich dass er recht gehabt hat.

  Ich sehe heute viele Menschen, die nach sich selbst suchen und dabei alles andere übersehen. Manchmal macht mich das zornig, manchmal lässt es mich ein wenig verzweifeln. Mit solchen Menschen zu sprechen ist nicht einfach, weil sie auf ihre eigene Reaktion warten anstatt sie geschehen zu lassen. Sie merken immer nur ihre eigene Ansicht und Reaktion auf etwas und spielen sich dann ewig mit dem Gedanken, ob es denn wirklich ihre eigene Reaktion sei, ob sie sich selbst gemäß reagiert haben und so fort.

  Vor meinem zweiten Besuch in Indien hatte ich mir überlegt, dass ich selbst wohl das am wenigsten Interessante im ganzen Land sein würde…und ich hatte vollkommen recht. Es gab dort Menschen mit ihren mannigfaltigen Problemen und Hoffnungen, Komplexitäten, die ich mir nicht hätte träumen lassen, Welten um Welten um Welten. Nur, wenn man aufhört sich mit sich selbst zu beschäftigen und mit den ganzen illusorischen Problemen, die einem das Leben (nach dem eigenen Denken) so schwer machen, dann muss man sich den wirklichen Problemen stellen.

  Ungerechtigkeit, Dummheit, Gier, Selbstsucht, Machtlosigkeit im Angesicht von furchtbaren Handlungen, Gewalt. Alles das geschieht und ab einem gewissen Punkt wird man sich klar, dass man sich innerhalb dieser Welt zurechtfinden muss und das ohne seine Hoffnung oder den positiven Ausblick zu verlieren oder, schlimmer, ihn zu Klischees verkommen zu lassen.

  Vom blinden Optimismus muss man zu einem beweglichen, unbelasteten Denken finden. Die eigenen Sicherheiten muss man leicht und tragbar halten und sie zur Not auch aufgeben können um sich ohne Sicherheiten durchs Leben zu tasten, denn die Augen, die sind ja jetzt offen.

  Wenn du auf der Suche nach dir selbst bist – ich glaube nicht, dass du dich irgendwo finden wirst. Du handelst und lebst einfach, bis sich die Frage auflöst. Wenn du kannst, gehe auf eine lange Reise. Nicht deinetwegen, sondern wegen aller Menschen, die du treffen wirst.

  Versuche so viele wie möglich zu verstehen und vergiss dich selbst bei jeder Gelegenheit.

Der Alltag buddhistischer Mönche im Himalaya

Reckong Peo besitzt ein großes Krankenhaus, mehrere Regierungsgebäude, wo man unter anderem hin muss, wenn man ein sogenanntes Inner Line Permit, also die Erlaubnis näher an die indisch-chinesische Grenze zu kommen, bekommen möchte, eine große Kaserne mit Helipad und einem glittergefüllten kleinen Kasernentempel und eine Menge an Schulen. Eine große Marktstrasse voller Geschäfte und Hotels ist der touristische und belebte Teil, aber wenn man eine der vielen Treppen hinaufsteigt, kommt man in den alten, ruhigen Teil. Dort gibt es kleine Geschäfte, Apfelhaine hinter Steinmauern, ein Zelt, aus dem Musik dringt und in dem ein Wahrsager und wandernder Magier seine Dienste und Mittelchen anbietet.

Ich hatte wieder einmal einen Kontakt. Ein Mönch namens Palden – ein großer, enorm gutherziger Mann aus Kalpa, der in einem kleinen Kloster ein Stück hügelaufwärts lebte. Bei einer Portion Thukpa, einer tibetischen Nudelsuppe, erzählte er mir in gebrochenem Englisch,dass sein Vater von einem Monat gestorben war. Einfach umgekippt. Er saß da, den nächsten Moment nicht mehr. Das brüchige Englisch und das unerwartete Vertrauen, das man einem Fremden gegenüber nicht unbedingt erwartet, beeindruckt mich. Wir freunden uns schnell an und Palden bringt mich bei einem Freund in einem indischen Government Resthouse unter, wo für gewöhnlich keine Ausländer bleiben dürfen. Der Besitzer, ein begeisterter Fußballer, will für den Gefallen nur ein Foto von ihm haben. In den nächsten Tagen zeigt mir Palden den kleinen Tempel.

Eine riesige Buddhastatue ist das Prunkstück des kleinen Tempels. Sie wurde 1993 – vor siebzehn Jahren – errichtet, wie eine Goldplakette an ihrem Sockel verkündet. Eine etwas glänzendere Plakette darunter verkündet, dass sie vor zwei Jahren, 2008, vom Dalai Lama begutachtet wurde, als er auf Durchreise nach Tabo war, wo damals die Kalachakra Festivitäten stattfanden. Ein alter Lama aus Ladakh leitet den Tempel – er ist schweigsam und sorgfältig. Besuchern gibt er gerne kleine Arbeiten, so finde ich mich unerwartet auf der Bank, die für Mönche reserviert ist und trockne ihm seine rituellen Schalen oder falte Zettel auf denen Auszüge der Schriften gedruckt sind, die er später verteilen will. Vielleicht ist es aber auch ein Flyer um Leute zu einer Festlichkeit einzuladen. Alles was ich tun kann ist die für mich fremden Haken und Schnörksel möglichst schön zu falten. Draußen, im kleinen Garten des Tempels höre ich Besucher und Palden und drei Arbeiter aus Bihar kümmern sich um den Baumbestand oder bemalen das Dach neu. Meistens kommen Menschen aus dem Dorf und bringen dem alten Lama Opfergaben für die Götter oder bitten ihn für sie zu wahrsagen. Im letzteren Fall holt er abgegriffen Würfel aus polierten Knochen und Holz hervor und wirft sie in einer glänzende polierten Messingschale. Intensiv oder ganz kurz studiert er die gefallenen Würfel und verkündet dann sein Urteil. Die Menschen warten gespannt aber geduldig auf seinen Spruch, den er meistens mit Sympathie und einem Lächeln verkündet. Ich bitte Palden mir zu übersetzen, was er sagt, aber das ist ihm sichtlich unangenehm. Zu persönlich oder zu geheim.

Die Menschen kommen mit allen möglichen Fragen. Manche davon sind lebensbestimmend – wen soll unsere Tochter oder unser Sohn heiraten? Sollen wir einen Jeep kaufen und uns als Fahrer verdingen oder doch lieber in ein Gerstefeld investieren? Andere scheinen sehr trivial – ist es gut für das Mädchen, blaue Steine zu tragen? Manches Mal befragt man Fortuna auch über den Ausgang einer Krankheit oder schlicht und einfach über den Stand der Sterne und die eigenen Aussichten – kurz, man bittet den Lama um ein Horoskop. Egal was die Frage ist, der alte Mann widmet sich der Beantwortung immer mit derselben routinierten Würde. Er grübelt kaum jemals über eine Antwort, sondern wirft die Würfel und hat sie gelesen, sobald sie zum Stillstand kommen. Die Antwort, gleich ob die Frage jetzt ernsthafte Konsequenze hat oder aus purer Eitelkeit gestellt wurde, wird mit einem kurzen Nicken von den Fragestellenden hingenommen, bevor sie dem Lama danken, ihre Gaben oder Spenden hinterlassen und wieder gehen. Der alte Mann mag durchaus der Hüter von enormen Geheimnissen sein, oder er ist einfach ein Herr in fortgeschrittenen Jahren, der seine Funktion erkannt und sie zuerst stolz später vielleicht resignierend akzeptiert hat. Die Würfel, so das Denken der Fragenden, geben Geheimnisse preis oder vernebeln sie weiter.

Über den alten Lama erfahre ich später etwas weniger Geheimes aber durchaus Überraschendes, nämlich dass es bis vor knapp zehn Jahren in der Gegend noch Tieropfer gegeben hat, um die Götter zufriedenzustellen. Er selbst war einer der vielen buddhistischen Mönche, die den Leuten vom Schlachten der Tiere abgeraten und ihnen empfohlen hatten, stattdessen Obst oder Nüsse zu opfern. Palden brachte von Besuchen bei Leuten aus der Gegend oft Säcke voll mit Nüssen oder getrockneten Pfirsichen mit. So mag es den Mönchen vor fünfzehn Jahren hier durchaus passiert sein, dass sie sich nach getanem Ritual plötzlich mit einem blutenden Stück Hammel in der Hand wiederfanden. Eine der Motivationen (sicherlich eine mindere, aber doch eine), aus denen der Buddhismus entstanden ist, war die Ablehnung der tausendfachen Tieropfer der Hindus und so ist es seltsam, diese Situation hier im Kleinen wiederzufinden und zu bemerken, dass Buddhisten durchaus auch in einer fast missionierenden Rolle auftreten können.

Tsonam Tsering, ein Lama aus dem entfernten Dehra Dun, kommt in den nächsten Tagen auf Besuch. Wie viele Mönche verbringt er einen Großteil seiner Zeit auf Reisen. Die große Gemeinschaft der Mönche in Indien und darüber hinaus erlaubt vielen Mönchen viele Orte zu sehen. Meistens bleiben sie für drei bis fünf Jahre an einem Ort, bevor sie weiterziehen. Um zu studieren oder weil sie Freunde besuchen wollen, oder weil sie die Möglichkeit haben in China oder in Europa zu unterrichten. Wenn man einen Mönch fragt, was machst du?, ist die Antwort sehr oft: Ich praktiziere Dharma. Dharma ist die Gemeinschaft der Menschen, vereint in ihrem geteilten Schicksal und die Mönche sind da, dieses Schicksal erträglicher zu machen. Dharma zu praktizieren heißt, das Leben im Fluss zu halten, es Menschen zu ermöglichen nach Schicksalschlägen oder (schlechten wie guten) Veränderungen weiterzumachen. Dharma heißt aber auch Selbst-beobachtung. Zu verstehen, woher Gefühle kommen und welche Auswirkungen sie haben. Den Kreislauf von Ursprung und Wirkung zu verstehen, den wir als Karma kennen. Karma existiert im Großen – im Sinne von einer guten Tat folgt eine gute, einer schlechten Tat eine schlechte – aber auch im kleinen. Was ist der Ursprung der Gefühle in mir? Was für Auswirkungen hat es, wenn ich im Affekt handle?

Mit Mönchen zu reden und mit ihnen Zeit zu verbringen heißt oft, die eigenen Handlungen und die eigenen Gedanken unter einem wohlwollenden aber strengem Blick zu finden. Ich habe Mönche getroffen, die auf den ersten Eindruck entschieden haben, ich sei ein aggressiver Mensch (ein Urteil das zuhause von sehr wenigen über mich getroffen wird) und andere, die lange und geduldig betrachtet haben und nie Urteile gefällt haben. Man muss bereit sein, die eigenen Motive zu hinterfragen und bekommt es auch sofort zu hören, wenn man aus einem negativen Gefühl heraus handelt. Aber viele sind auch selbst sehr frei mit ihren Gefühlen und Sorgen und arbeiten darauf hin, diesen Gefühlen mit einer amüsierten Distanz zu begegnen. Palden, beispielsweise, war sehr traurig über den Tod seines Vaters, aber das Gefühl, über diese Trauer Herr werden zu müssen, das war weit strenger in ihm.

Die Mönche benutzen Unterrichtsmethoden, die an den Charakter des Schülers angepasst sind. Wenn jemand einen langsamen Geist hat, dann lernt er Mantren zu sprechen, endlose Wiederholungen zu vollführen – um seinen Geist zu disziplinieren. Er muss viele Gebote befolgen, weil man ihm keine Selbst-Diziplin zutraut. Jemand mit größerem Verständnis folgt anderen Regeln und lernt psychologische Grundlagen, um den menschlichen Geist begreifen zu können.

Palden und Tsonam waren grundverschiedene Mönche. Tsonam, klein und bullig, der früher Kampfsport und Krafttraining betrieben hatte und Kapitän des inoffiziellen Fussballteams der Exiltibeter war, war ein fähiger und kluger Mann, dem man zutrauen konnte ein Kloster zu leiten. Palden, groß, langsam und emotional, war durch seine Gutherzigkeit beeindruckend, konnte aber seine Gefühle nicht immer im Zaum halten. Trotzdem kamen die beiden bestens miteinander aus. Ich war oft bis nach Einbruch der Dunkelheit bei den beiden und gab Palden in Wort und Pantomime Englischunterricht– oder wir haben eine miserable Hollywoodkomödie auf meinem Laptop angesehen oder einfach feinere Punkte des Mönch- und Menschseins an sich debattiert.

Immer wieder kamen die beiden von „Außeneinsätzen“ zurück. Tsonam besaß ein Motorrad – bevor es ihm irgendwann am hellichten Tag gestohlen wurde. Oft waren das Dorffeste oder von Familien für eines ihrer Mitglieder bestellte Zeremonien. Manchmal waren es traurige Angelegenheiten – ein Jeep mit drei jungen Männern war in der Nacht von der Strasse abgekommen und in den Fluss gestürzt. Man konnte weder den Wagen noch die Körper der drei Männer finden, aber es wurden Zeremonien abgehalten um ihre Geister zu besänftigen und um den Gemütern von Familie und Freunden zumindest das Bisschen Frieden zu geben. Manchmal, wenn Tsonam zurückkam, konnte man ihm ansehen, dass er das Gewissen vieler Menschen auf den Schultern trug. Zwischen Gesprächen fiel er in Meditationsübungen, um seine eigene Ruhe bewahren zu können und um genug Kraft zu haben, um anderen Menschen Kraft zu spenden. In unserem europäischen Leben spielen Mönche und Seelsorger eine sehr kleine Rolle. Religion ist fast untrennbar mit einem Gefühl von Schuld verbunden – im Himalaya spielten die Mönche viele Rollen: Erhalter einer Kultur, zurückhaltende Missionare, ehrenwerte Lehrer, Vermittler zu den Geistern aber auch Psychologen, Denker. Sind sind aber auch, und das hat mich sehr überrascht, Musiker.

Eine Damaru ist eine Handtrommel. Wenn er ein Ritual durchführt, dann hält der Mönch (oder die Nonne, es gibt keinen Grund, warum nicht auch Frauen auf einem religiösen Pfad wandern können) eine verzierte Glocke in der linken Hand und die Damaru zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand. Dann beginnt der schwierige Teil. Nur aus den Handgelenken muss er diese beiden Instrumente spielen, zwei unterschiedliche Rhythmen halten und dabei noch relative komplexe Gesänge meistern. Man ist versucht zu meinen, dass das der eigentliche Grund ist, warum Mönche während ihrer Ausbildung so viel Wert auf Konzentrationsübungen legen. Meine Probleme beginnen schon, wenn es darum geht eine Damaru zu spielen. Die Damaru ist, wie viele Trommeln, ein schamanisches Instrument. Das heißt, sie wird zum Verbindungsstück zwischen der unsrigen Welt und der Geisterwelt. Indem der Mönch die Damaru spielt, versetzt er sich in Trance und kann so, nach dem Glauben der Menschen, böse Geister beschwichtigen oder den Willen der Gottheiten erkennen.

Von Reckong Peo und meinen neuen Freunden verabschiedete ich mich nur widerwillig. Aber ich wollte weiter, höher hinauf in die Berge, in die Felswüste von Spiti, wo Ngwang seiner geheimen Initiation beiwohnte. Er war einige Wochen vor mir nach Spiti gefahren – ein hochrangiger reinkarnierter Lehrer gab dort Teachings – Initiationsriten. Persönlich hatte ich bis auf Neugierde wenig Motivation dorthin zu fahren, aber die Berge hatten mich schon lange fasziniert. In viertausend Meter Höhe, abseits von den meisten Angeboten der Zivilisation…gewappnet mit meinem Inner Line Permit bestieg ich einen Bus nach Nako.

Image Selection – Blue, Red, Green, Yellow

An attempt to create a photograph that looks like an Orientalist painting. The mountains, receding into light or the sky. | Ein Versuch, eine Fotografie wie ein orientalistisches Gemälde aussehen zu lassen. Die Berge verschwinden im Licht oder im Himmel selbst.

A sternly meditating Buddha with a red shape passing by in the background.  | Ein Buddha, versunken in strenger Meditation, dahinter ein roter Schemen.

The mountains never seem as verdant and lush as around a village. Everything else is desert. | Nur in der Umgebung eines Dorfes wirken die Berge so grün und lebendig. Der Rest ist Wüste.

A utensil used by monks in a monastery. I don’t know what it is, but the shadow fascinated me. | Ein unbekanntes Utensil in einem Kloster…der Schatten hat mich fasziniert.

Über Tibet…

(Eigentlich wollte ich diesen Post anlässlich des Besuchs des Dalai Lamas in Wien dieses Frühjahr veröffentlichen…aus den unterschiedlichsten Gründen, kommt er allerdings erst jetzt ans virtuelle Tageslicht – die Ideen und Analysen darin sind tragbar, wenn auch sicher vereinfacht. Weitergeführt wird alles immerhin nur komplizierter…)
Was lässt sich über Tibet sagen, was lässt sich über Tibeter sagen? Jenseits der Religion oder der Spiritualität…hart arbeitende Menschen, die alle mit einer ungeheuren Last auf den Schultern leben und diese Last momentan fast spielerisch abschütteln können. Was ist Tibet? Mehr denn je ein Traum, für alle Beteiligten.

Vor kurzer Zeit hat der Dalai Lama sein Amt als politisches Oberhaupt der Tibeter niedergelegt. Ein Amt, das die Dalai Lamas für hunderte Jahre innehatten. Für viele Menschen, auch wenn sie sonst nichts von Tibet wissen, ist der Dalai Lama Tibet. Er möchte sein Volk erwachsen werden lassen und verhindern, dass sie nach seinem Tod ins Chaos stürzen. Er möchte die Tibeter reformieren und ihnen die Möglichkeit geben, das Bild das die Welt von ihnen hat etwas ausgeglichener zu machen. Lamas und Mönche sind nach wie vor ein großer Teil der tibetischen Gesellschaft. Sie sind ein spiritueller, sozialer und auch finanzieller Ankerpunkt, der den Tibetern erlaubt hat einen wesentlichen Aspekt ihrer Kultur am Leben zu halten.

  Wenn man oberflächlich betrachtet und alles, was man kennt, der Dalai Lama und seine Aphorismen sind, kann man durchaus meinen, dass Tibeter alle weise Mönche sind und Klöster in den fernen Bergen hatten und haben einen nicht zu leugnende Anziehung.

  Ebenso leicht ist es, den Einmarsch der Chinese kategorisch zu verdammen und als Greueltat einer gesichtslosen Staatsmaschinerie zu bezeichnen. Materialismus trifft auf Spiritualität, eine brutale Armee trifft auf ein Volk von Pazifisten.

  Aber nichts ist so einfach. Politisch gesehen existiert Tibet nicht mehr. Landkarten nennen die Region China oder die Autonome Region Tibet (unter chinesischer Kontrolle). Politische Oberhäupter haben tibetische Hilferufe in den letzten fünfzig Jahren fast einheitlich ignoriert, oder dem Dalai Lama eine Audienz gewährt, wenn sie, salopp gesagt, China ärgern wollten. Politische Beziehungen zwischen China und Exil-Tibet sind seit der Invasion auf demselben Stand – die Tibeter können den Chinesen nicht vertrauen und den Chinesen sind die Tibeter zu unvorhersehbar.

  Die Invasion von 1950 war nicht die erste. Bereits 1910 gab es eine chinesische Invasion in Tibet, damals besiegten die Tibeter die Besatzer in mehreren Kämpfen und politische Instabilität und die Invasion der Japaner in China gestalteten sich zum tibetischen Vorteil. Davor gab es andere. Die beiden Länder haben eine lange Vergangenheit an Kriegen und gegenseitiger Besatzung. Eine lange Vergangenheit an Misstrauen.

  China führt den Besitzanspruch auf eine halb-historische, halb-mythische Idee von der Ausweitung ihres eigenen Staates zurück. Auch Teile der Mongolei und das Gebiet der Uighuren im Nordwesten des heutigen China fielen diesen Ansprüchen zum Opfer, haben aber keine so medienwirksame Persönlichkeit wie den Dalai Lama um auf ihre Situation aufmerksam zu machen. Das soll keine Kritik sein, sondern nur unterstreichen, wie wichtig der Dalai Lama für Tibet ist. Gottkönig, spiritueller Führer, PR Genie – wie auch immer man ihn nennen will, er hat die ganze Situation für Jahrzehnte fast alleine auf seinen Schultern getragen.

  Tibeter sind kein Volk von Pazifisten – es gibt auch heute noch genug Menschen, die sofort bereit wären Waffen zur Hand zu nehmen und einen Guerillakrieg gegen die Chinesen zu führen. Für eine lange Zeit nach der Flucht des Dalai Lama nach Indien und der Bildung einer Exilregierung war eine drängende Frage, wie man denn genug Waffen und Munition kaufen könnte um in Tibet modern ausgerüstet zu kämpfen. Bei uns führt man als Kritikpunkt gegen den Dalai Lama gerne an, dass er in den 70er Jahren Geld vom CIA für Waffen genommen hat. Es war damals ein Riesenerfolg für die Tibeter, überhaupt Unterstützung zu bekommen, noch dazu von den mächtigen USA (dass die allerdings bloß die Tibeter in ihren eigenen Krieg gegen den Kommunismus einspannen wollten, war ihnen vermutlich nicht klar).

  Die Chinesen sind kein Volk seelenloser Materialisten – die Besetzung Tibets bleibt heute auch in China nicht ohne Widerspruch, nur dringen durch die generelle Medienblockade viel zu wenige Informationen nach außen. Die grausame kulturelle Umerziehungspolitik, die in Tibet angewandt wurde, und die plumpe Methode der historischen Gehirnwäsche, die immer noch Anhänger findet, die sind reale Probleme für Tibet, wie auch für Weite Teile von China selbst. Bis heute wird die religiöse Überzeugung der Tibeter systematisch angegriffen – nicht mit offener Gewalt, aber mit der tiefgehenden Grausamkeit böswilliger und hochintelligenter Menschen. Chinesische Entscheidungsträger sind dabei durch erzwungene politische Parität das tibetische Erbe, wie auch das Erbe ihrer eigenen Minderheiten, so gut es geht auszulöschen. Lhasa ist heute ein Vergnügungspark für reiche chinesische Touristen, in denen eine falsche Geschichte propagiert wird und wo Tibeter weiterhin aktiv davon abgehalten werden, politische Meinungen zu äußern, die von der Parteilinie abweichen und wo sie extremem psychischen Druck ausgesetzt werden, ihr Erbe und ihre Kultur systematisch zu verleugnen. Das darf nicht vergessen werden.

  Die Entscheidung des Dalai Lama, von allen politischen Ämtern zurückzutreten, ist ein historischer Einschnitt in die Geschichte der Tibeter. Er nimmt die Trennung von Kirche und Staat sozusagen im Alleingang vor und schließt dabei vermutlich mit einer Hierarchie ab, die Tibet für Jahrhunderte dominiert hat. Die chinesische Behauptung, dass Tibet ein mittelalterlicher Feudalstaat war, der in die moderne Welt geführt werden musste, der ist nicht ganz ohne Grund. Heute, in den Flüchtlingskolonien, in denen jeder Einzelne von Grund auf beginnen musste, sieht man es nicht, aber Tibet wurde lange Zeit von einer Aristokratie beherrscht. Hochrangige Lamas, die Politiker und teilweise auch Kriegslords waren und in oft blutige Intrigenspiele verwickelt waren. Menschen wurden als Schwarzmagier denunziert und brutal hingerichtet, es gab ein Kastenwesen, das in Strenge mit dem indischen durchaus zu vergleichen war. Einige der liberaleren Tibeter können dem Niedergang einer solchen Feudalmacht durchaus etwas Positives abgewinnen. Der Abtritt des Dalai Lama zeigt, dass er sein Volk in eine Zukunft der politischen Emanzipation führen will, in dem ihr Schicksal nicht mehr von einer einzigen Person abhängt und in der die spirituelle Macht mit der weltlichen nicht mehr verknüpft ist. Ein feudales Tibet ist durch die Umstände, in denen Tibeter leben ohnehin unmöglich geworden – es bleibt zu sehen, was nach dem Hinscheiden des Dalai Lama passiert und wie sich diese Entscheidung auf die Zukunft der Position und die Zukunft der Tibeter auswirkt.

  Was er damit auch machen möchte – und das lese ich sehr selten in Nachrichten, die sich mit Tibet beschäftigen – ist, den Chinesen einen Schachzug zu verkomplizieren. Es ist ziemlich sicher, dass die Chinesen nach dem Tod des jetzigen Dalai Lama einen Nachfolgekandidaten für ihn ernennen und die Tibeter einen anderen. So ist es beim Panchen Lama, einem wichtigen Lama in der tibetischen Hierarchie, geschehen. Die Chinesen haben die eigentliche Reinkarnation entführt und einen eigenen Kandidaten aufgestellt. Wenn der Dalai Lama jetzt seine politische Macht vermindert und es den Tibetern gelingt eine starke politische Führung zu schaffen, ist das Risiko, das durch einen Nachfolgestreit entsteht erheblich gemindert.

Es wird komplizierter und komplizierter. Es gibt kein Gut und kein Böse in der Welt.

In Amritsars Altstadt…Gedanken zu einem modernen (ewigen) Indien

In Amritsars Altstadt, bevor man den verzierten Park und den viktorianischen Uhrturm vor dem Goldenen Tempel erreicht, findet man wie oft in indischen Städten ein Stück Vergangenheit, übersehen, vergessen oder bloß noch nicht durch neumodische und häßliche Betonblöcke ersetzt. Man muss nur den Kopf in den Nacken legen und durch das Dickicht an Stromleitungen blicken, um alte Holzbauten zu sehen, filigrane Fenster, die ideal an das heiße Klima (wenn auch nicht an die Abgase der Autos) angepasst scheinen und hinter denen man oft die Farben vorbeistreichender Saris sehen kann. Eine Erinnerung an eine Welt, in der spielvolles Geheimnis und Privatraum einhergingen und in der die Gassen noch nicht von Motorenlärm erfülllt waren.

Heute, in der ungeduldigen Welt, verblassen die Holzbauten von Amritsar, werden wohl bald verschwinden während Indien seine unaufhaltsame Amerikanisierung und Re-Urbanisierung fortsetzt und alles alte, verachtete mit Shopping Malls und Kondos ersetzt. Restaurierung und Nostalgie haben im heutigen Indien keinen Platz – was nicht nützlich ist, wird durch nützliches ersetzt. Was sehr nützlich ist, wird in weniger nützlicher Form tausendfach kopiert. Magische Ecken muss man sich suchen, manchmal mühsam erarbeiten. Das Chaos überlädt vielleicht die Sinne von Neuankömmlingen, aber irgendwann gewöhnt sich selbst der rastloseste Geist daran und sucht nach dem Schönen und Geheimnisvollen.

Indien ist eine uralte, aber auch eine zutiefst ungeduldige Kultur. Der  Weise und Geduldige ist dort so rar wie an jedem anderen Ort. Indien scheint heute auch in seltsamem Unfrieden mit sich selbst zu sein. Wachstum wird aggressiv, fast süchtig verfolgt und viele junge Menschen brechen mit ihrer Vergangenheit, sprechen mit fast unverhohlener Feindlichkeit oder Verachtung über die Väter der jungen Nation. Indien mag alt sein, für einen westlichen Menschen, der ein Land durch seine Geschichte betrachtet und misst, aber die meisten Inder haben es gerade einmal geschafft, das lange Stigma der Kolonialisierung abzuschütteln. Kaum geboren und vielleicht deshalb so aggressiv, so süchtig danach erfolgreich zu sein.

Nach langen Jahrhunderten als Kolonie konnte sich der Staat im Postkolonialismus nur langsam behaupten. Segregationsbestreben gab es immer und wird es in Indien auch immer geben, auch wenn sie oft nur dem Namen nach verfolgt werden. Einheit gab und gibt es genauso, sei das nun über ein Cricketmatch oder den Soundtrack eines Bollywoodfilms oder über indische Archetypen.

Die indische Mittelschicht, die ist neu, Resultat des Aggresiven und des Drängens. Sie sind die Wollenden, die Ungeduldigen und die, die zur erstbesten Lösung greifen. Aber sie sind auch die, die Indien umgestalten wollen; in vielen Fällen westlicher machen wollen, aber in manchen auch nach ganz eigenen, indischen Lösungen suchen. Was diese Menschen machen und wie sie die Zukunft des Landes mitbestimmen werden, das bleibt zu sehen. Viel mehr Altes wird verlorengehen in Indien und bald wird das Bild des Reisenden, der in Indien nach einer anderen Welt sucht und sie finden kann, so mythisch sein wie das des 68ers, der dort sein Paradies an Hasch und Spirit entdecken konnte.

Das moderne Indien steckt in einer tiefen Identitätskrise, so viel scheint sicher. Krisenresistente Wirtschaft? Vielleicht. Klare Ziele für die Zukunft? Nein. Mehr Vielfalt in Einheit? Oder Einfalt in Vielheit? Oder beides? Oder alles? Indien hält so vieles an Faszination und Möglichkeit, aber wenn die Mentalität des Haben, Wollen und Müssen so weiter bestehen bleibt, wird es bald vielleicht noch weniger von dem Indien der westlichen Vorstellung geben als es ohnehin schon der Fall ist.

Nicht, dass das etwas ausnehmend Schlechtes ist. Veränderung ist immerhin unaufhaltsam. Eine eigene Identität, die hat Indien doch auch schon lange. Sei sie in dem alten Mann, der mir mit einer kindhaften Freude das orangefarbene Tuch um die Haare knüpft (unbedeckten Hauptes darf man den Goldenen Tempel nicht betreten) oder in dem selbstsicheren Sikh Mädchen,kaum halb so groß wie ich, das mir bestimmt den Guru ka Langkhar, die Speisehalle des Tempels, zeigt. Vielleicht schaue ich einfach zu lange in die falsche Richtung und verlange Einheit, wo nur Individualität ist…vielleicht stellt sich Indien vor meinen Augen wieder einmal auf den Kopf oder vielleicht brauche ich nur wieder zu lange um zu bemerken, dass ich selbst auf dem Kopf stehe.

In Amritsars Altstadt wird das Alltägliche selbst wieder zum Geheimnisvollen, wenn man die Geduld aufbringen kann, es als solches zu sehen.

Image Selection – Himachal Pradesh by Sylvain Durand

Another selection of images from a colleague and friend of mine – Sylvain Durand, educated painter and self taught photographer from Dijon.

Food is a communal affair in this small village, near Manali. Women, Men and Children sitting together, eating together – they do not possess much, but the rice bowl is one of their treasured posessions. | Gegessen wird in diesem kleinen Dorf in der Nähe von Manali gemeinsam. Frauen, Männer und Kinder sitzen beisammen. Die Menschen hier besitzen nicht viel, aber die Reisschale zählt zu ihren wertvollsten Besitztümern.

The style of houses is unique to the areas around Sarahan and Reckong Peo, where amazingly detailed woodworks like no other in India can be found (although it certainly is not the topic of conversation of those two ladies). | Diesen Baustil findet man nur in dem Gebiet um Sarahan und Reckong Peo – er charakterisiert sich vor allem durch wunderbar detaillierte, in Indien beispiellose Holzarbeiten (den Frauen, versunken in ihrem Gespräch, ist das natürlich gleich…).

The strong Tibetan influence makes some regions in the Western Himalayas almost “more Tibet than Tibet”. | Der starke tibetische Einfluss im westlichen Himalaya macht manche Regionen “tibetischer als das heutige Tibet”.

Kungri Monastery held one of the biggest festivals, gathering almost two thousand people from the outlying villages. The surroundings are, as you can see, utterly stunning. | Die unglaubliche, aber menschenleere Landschaft rund um Kungri macht es umso erstaunlicher, dass sich zu diesem Festival knapp zweitausend Menschen zusammengefunden haben.