Über Tibet…

(Eigentlich wollte ich diesen Post anlässlich des Besuchs des Dalai Lamas in Wien dieses Frühjahr veröffentlichen…aus den unterschiedlichsten Gründen, kommt er allerdings erst jetzt ans virtuelle Tageslicht – die Ideen und Analysen darin sind tragbar, wenn auch sicher vereinfacht. Weitergeführt wird alles immerhin nur komplizierter…)
Was lässt sich über Tibet sagen, was lässt sich über Tibeter sagen? Jenseits der Religion oder der Spiritualität…hart arbeitende Menschen, die alle mit einer ungeheuren Last auf den Schultern leben und diese Last momentan fast spielerisch abschütteln können. Was ist Tibet? Mehr denn je ein Traum, für alle Beteiligten.

Vor kurzer Zeit hat der Dalai Lama sein Amt als politisches Oberhaupt der Tibeter niedergelegt. Ein Amt, das die Dalai Lamas für hunderte Jahre innehatten. Für viele Menschen, auch wenn sie sonst nichts von Tibet wissen, ist der Dalai Lama Tibet. Er möchte sein Volk erwachsen werden lassen und verhindern, dass sie nach seinem Tod ins Chaos stürzen. Er möchte die Tibeter reformieren und ihnen die Möglichkeit geben, das Bild das die Welt von ihnen hat etwas ausgeglichener zu machen. Lamas und Mönche sind nach wie vor ein großer Teil der tibetischen Gesellschaft. Sie sind ein spiritueller, sozialer und auch finanzieller Ankerpunkt, der den Tibetern erlaubt hat einen wesentlichen Aspekt ihrer Kultur am Leben zu halten.

  Wenn man oberflächlich betrachtet und alles, was man kennt, der Dalai Lama und seine Aphorismen sind, kann man durchaus meinen, dass Tibeter alle weise Mönche sind und Klöster in den fernen Bergen hatten und haben einen nicht zu leugnende Anziehung.

  Ebenso leicht ist es, den Einmarsch der Chinese kategorisch zu verdammen und als Greueltat einer gesichtslosen Staatsmaschinerie zu bezeichnen. Materialismus trifft auf Spiritualität, eine brutale Armee trifft auf ein Volk von Pazifisten.

  Aber nichts ist so einfach. Politisch gesehen existiert Tibet nicht mehr. Landkarten nennen die Region China oder die Autonome Region Tibet (unter chinesischer Kontrolle). Politische Oberhäupter haben tibetische Hilferufe in den letzten fünfzig Jahren fast einheitlich ignoriert, oder dem Dalai Lama eine Audienz gewährt, wenn sie, salopp gesagt, China ärgern wollten. Politische Beziehungen zwischen China und Exil-Tibet sind seit der Invasion auf demselben Stand – die Tibeter können den Chinesen nicht vertrauen und den Chinesen sind die Tibeter zu unvorhersehbar.

  Die Invasion von 1950 war nicht die erste. Bereits 1910 gab es eine chinesische Invasion in Tibet, damals besiegten die Tibeter die Besatzer in mehreren Kämpfen und politische Instabilität und die Invasion der Japaner in China gestalteten sich zum tibetischen Vorteil. Davor gab es andere. Die beiden Länder haben eine lange Vergangenheit an Kriegen und gegenseitiger Besatzung. Eine lange Vergangenheit an Misstrauen.

  China führt den Besitzanspruch auf eine halb-historische, halb-mythische Idee von der Ausweitung ihres eigenen Staates zurück. Auch Teile der Mongolei und das Gebiet der Uighuren im Nordwesten des heutigen China fielen diesen Ansprüchen zum Opfer, haben aber keine so medienwirksame Persönlichkeit wie den Dalai Lama um auf ihre Situation aufmerksam zu machen. Das soll keine Kritik sein, sondern nur unterstreichen, wie wichtig der Dalai Lama für Tibet ist. Gottkönig, spiritueller Führer, PR Genie – wie auch immer man ihn nennen will, er hat die ganze Situation für Jahrzehnte fast alleine auf seinen Schultern getragen.

  Tibeter sind kein Volk von Pazifisten – es gibt auch heute noch genug Menschen, die sofort bereit wären Waffen zur Hand zu nehmen und einen Guerillakrieg gegen die Chinesen zu führen. Für eine lange Zeit nach der Flucht des Dalai Lama nach Indien und der Bildung einer Exilregierung war eine drängende Frage, wie man denn genug Waffen und Munition kaufen könnte um in Tibet modern ausgerüstet zu kämpfen. Bei uns führt man als Kritikpunkt gegen den Dalai Lama gerne an, dass er in den 70er Jahren Geld vom CIA für Waffen genommen hat. Es war damals ein Riesenerfolg für die Tibeter, überhaupt Unterstützung zu bekommen, noch dazu von den mächtigen USA (dass die allerdings bloß die Tibeter in ihren eigenen Krieg gegen den Kommunismus einspannen wollten, war ihnen vermutlich nicht klar).

  Die Chinesen sind kein Volk seelenloser Materialisten – die Besetzung Tibets bleibt heute auch in China nicht ohne Widerspruch, nur dringen durch die generelle Medienblockade viel zu wenige Informationen nach außen. Die grausame kulturelle Umerziehungspolitik, die in Tibet angewandt wurde, und die plumpe Methode der historischen Gehirnwäsche, die immer noch Anhänger findet, die sind reale Probleme für Tibet, wie auch für Weite Teile von China selbst. Bis heute wird die religiöse Überzeugung der Tibeter systematisch angegriffen – nicht mit offener Gewalt, aber mit der tiefgehenden Grausamkeit böswilliger und hochintelligenter Menschen. Chinesische Entscheidungsträger sind dabei durch erzwungene politische Parität das tibetische Erbe, wie auch das Erbe ihrer eigenen Minderheiten, so gut es geht auszulöschen. Lhasa ist heute ein Vergnügungspark für reiche chinesische Touristen, in denen eine falsche Geschichte propagiert wird und wo Tibeter weiterhin aktiv davon abgehalten werden, politische Meinungen zu äußern, die von der Parteilinie abweichen und wo sie extremem psychischen Druck ausgesetzt werden, ihr Erbe und ihre Kultur systematisch zu verleugnen. Das darf nicht vergessen werden.

  Die Entscheidung des Dalai Lama, von allen politischen Ämtern zurückzutreten, ist ein historischer Einschnitt in die Geschichte der Tibeter. Er nimmt die Trennung von Kirche und Staat sozusagen im Alleingang vor und schließt dabei vermutlich mit einer Hierarchie ab, die Tibet für Jahrhunderte dominiert hat. Die chinesische Behauptung, dass Tibet ein mittelalterlicher Feudalstaat war, der in die moderne Welt geführt werden musste, der ist nicht ganz ohne Grund. Heute, in den Flüchtlingskolonien, in denen jeder Einzelne von Grund auf beginnen musste, sieht man es nicht, aber Tibet wurde lange Zeit von einer Aristokratie beherrscht. Hochrangige Lamas, die Politiker und teilweise auch Kriegslords waren und in oft blutige Intrigenspiele verwickelt waren. Menschen wurden als Schwarzmagier denunziert und brutal hingerichtet, es gab ein Kastenwesen, das in Strenge mit dem indischen durchaus zu vergleichen war. Einige der liberaleren Tibeter können dem Niedergang einer solchen Feudalmacht durchaus etwas Positives abgewinnen. Der Abtritt des Dalai Lama zeigt, dass er sein Volk in eine Zukunft der politischen Emanzipation führen will, in dem ihr Schicksal nicht mehr von einer einzigen Person abhängt und in der die spirituelle Macht mit der weltlichen nicht mehr verknüpft ist. Ein feudales Tibet ist durch die Umstände, in denen Tibeter leben ohnehin unmöglich geworden – es bleibt zu sehen, was nach dem Hinscheiden des Dalai Lama passiert und wie sich diese Entscheidung auf die Zukunft der Position und die Zukunft der Tibeter auswirkt.

  Was er damit auch machen möchte – und das lese ich sehr selten in Nachrichten, die sich mit Tibet beschäftigen – ist, den Chinesen einen Schachzug zu verkomplizieren. Es ist ziemlich sicher, dass die Chinesen nach dem Tod des jetzigen Dalai Lama einen Nachfolgekandidaten für ihn ernennen und die Tibeter einen anderen. So ist es beim Panchen Lama, einem wichtigen Lama in der tibetischen Hierarchie, geschehen. Die Chinesen haben die eigentliche Reinkarnation entführt und einen eigenen Kandidaten aufgestellt. Wenn der Dalai Lama jetzt seine politische Macht vermindert und es den Tibetern gelingt eine starke politische Führung zu schaffen, ist das Risiko, das durch einen Nachfolgestreit entsteht erheblich gemindert.

Es wird komplizierter und komplizierter. Es gibt kein Gut und kein Böse in der Welt.

Der tibetische Bettler

In Majnu-ka-tilla durfte ich einige interessante Begegnungen machen. Eine der dunkleren Seiten der Kolonie begegnete mir in Form eines schwarzen Schafes der kleinen Gemeinschaft. Ein Mann sprach mich an als ich auf dem Platz vor den beiden Tempeln saß. Er war klein, aber kräftig, nur sein Blick war seltsam leer. Er sprach mich auf Englisch an und wir unterhielten uns eine Weile. Als erstes sah ich, dass der Mann betrunken war…ein paar Momente später sah ich, dass das nicht ganz richtig war. Er war nicht so sehr betrunken, sondern er schien einen etwas nüchterneren Moment zwischen zwei Flaschen erwischt zu haben um mit mir zu reden. Sein Kopf war gesenkt und sein Blick war auf irgendeine verborgene Qual tief in seinem Geist gerichtet. Er sprach gutes Englisch, brüchig eher nur durch seinen Sprechrhythmus, der sprudelte und versiegte, sprudelte und versiegte. Seine Ausbrüche waren heftig, fast aggressiv, aber er schwand ebeso schnell wieder in Entschuldigungen und Abschwächungen. Er sei kein Bettler, sagte er mir fast zornig, als hätte ich es ihm vorgeworfen, und wenn es eines gäbe was ich über Tibeter wissen sollte, dann das: Tibeter betteln nicht! Er sprach weiter davon wie gut es sei, dass ich hierhergekommen war und den Tempel besucht hatte und er entschuldigte sich immer wieder – für sich selbst, für dieses, für jenes, für die Sonne, für den Mond. Für einen Moment ging er in eines der Geschäfte, wollte Tee holen – als er verschwunden war, flüsterte mir der Tibeter, der neben mir auf der Bank saß zu, ich solle dem Kerl nicht zuhören, er sei wahnsinnig. Als er wiederkam, hatte er den Tee vergessen, was aber höchst animiert und stieß ein paar Worte hervor – The Chinese People’s Police—und der Rest ging in einem finsteren Murmeln unter. Er war jetzt sehr niedergeschlagen. Er sei nutzlos, sagte er zu mir, können nichts tun und überlebte nur weil sich Leute um ihn kümmern. Dann streckte er seine Hände aus, zu einer Schale geformt. Ob ich ihm denn nicht helfen konnte. Es war klar, er hasste sich in diesem Moment selber, hasste es betteln zu müssen. Ich gab ihm ein paar Rupien und musste aufstehen und gehen.

Ich sah ihn später wieder, auf der Strasse, torkelnd oder die Welt aus zusammengekniffenen, zweifelnden Augen beobachten. Manchmal ging er neben Touristen, führte ein ähnliches Spiel aus Selbsthass und Bedürftigkeit auf. Manchmal sah ich ihn wie er für eine Gruppe lachender Tibeter einen ungelenken, sehr bemitleidenswerten Tanz aufführte. Er wurde für mich ein Bild für das, worüber alle in Majnu-ka-tilla lieber schweigen wollten. Die Schwierigkeit fremd zu sein, das lange und unabwendbare Leid, das eigene Zuhause verloren zu haben. Die Qualen und Gefahren, mit denen Tibeter auch heute noch leben. Kaum jemand sprach davon, weil sich die eigene Geschichte kaum von der des anderen unterschied. Mit einem Menschen, der vielleicht später aus derselben Region geflüchtet ist kann man sich kurz austauschen – wie es diesem und jenem geht, ob etwas zerstört wurde, Dinge die man direkt sagen kann, aber nicht in e-mails oder am Telefon.

Danach wurden manche Dinge deutlicher für mich. Ich sah Werbung an den Internetcafes – sieben Rupien die Minute für einen Anruf nach Tibet. Als ich einmal nachfragte, sagte man mir, dass es manchmal funktionierte die Menschen zuhause anzurufen und manchmal die Telefone blockiert waren. An den Wänden hingen Zettel auf denen man blutig geschlagene Gesichter sehen konnte. Politische Gefangene. Wie war die Situation in Tibet im Moment? War das Propaganda, oder Realität?

Ich wurde neugieriger. Ich wollte wissen, was die Leute zu erzählen haben. Aber wie sollte ich diese Barrieren, die ganz deutlich da waren, überwinden? Kann ich einfach jemanden auf der Strasse fragen ob er mir seine Geschichte erzählen will? Wie kann man zu den Leuten genug Vertrauen afbauen um etwas mehr als nur die normale Touristengeschichte zu bekommen?