Geschichtenerzählen im modernen Marokko

DSC_7415

Sein Nachbar sieht Joha, wie er in seinem Garten verzweifelt etwas sucht. „Joha,“ ruft er ihm zu. „Was sucht du?“
„Meinen Schlafzimmerschlüssel,“ kommt die Antwort.
„Wo hast du ihn denn verloren?“
„Im Keller!“
„Äh…warum suchst du ihn dann hier?“
Joha schaut für einen Moment auf. „Wie soll ich den im Dunklen finden? Das Licht ist besser hier.“

Laut Tradition erzählt man mindestens sechs Joha Geschichten. Man erzählt sie im Wechsel. Zuerst der eine, dann der andere. Joha, den weisen Narren, kennt man in der ganzen muslimischen Welt unter verschiedenen Namen. In unseren Gefilden – in einer Überlieferung, die den Sufis zuzuschreiben ist – heißt er meistens Mullah Nasruddin.

Die Sufis bezeichnen die Geschichten gerne als philosophische Witze und es gibt Studien über die tiefere Bedeutung der Witze und ihres psychologischen Effektes. Denn Geschichtenerzählen ist ein wichtiges soziales Phänomen…es entwickelt Vorstellungskraft und Charakter. Geschichten können komplexe Ideen auf simple Art und Weise wiedergeben. Effekt haben sie definitiv auch heute noch – ich eröffne gerne Erzählabende mit ein paar Geschichten von Mullah Nasruddin. Sie brechen das Eis wunderbar. Sie haben anscheinend auch restorative Wirkung…

Salmane ist ein Literaturstudent in Marrakesch. Wir kennen uns seit einigen Jahren, nachdem er mir bei meinem ersten Besuch in der Stadt seine Wohnung zum Übernachten angeboten hat. Er brachte mich auf seinem Motorrad quer durch die Stadt und hat eine Neigung so wenig Schlaf wie möglich zu bekommen. Zwei Stunden Schlaf und der hektische Verkehr der Stadt vertragen sich nicht so gut. Salmane nahm mich auf seinem Motorrad mit zum Bahnhof und sagte mir, während der Fahrt, dass er kaum die Augen offen halten konnte.

„Erzähl mir was, damit ich wach bleibe.“

Das erste, was mir in den Sinn kam, waren die Geschichten von Mullah Nasruddin. Ich erzählte brav sechs am Stück, während Autos und Motorräder an uns vorbei durch die Strassen schossen. Salmane blieb wach.

Am Abend zuvor hatten wir gemeinsam seine Bachelorarbeit durchgelesen. Die Übersetzung und Analyse einer traditionellen Geschichten aus seiner Heimat, abgeschlossen von einem Gedicht, auf Englisch verfasst, über das Erzählen an sich.

Mit dabei war auch ein Studienkollege von Salmane, Mehdi, der uns seine Geschichte erzählte, von weisen Herrscher und seinen weisen Urteilen. Er hatte sie gelernt von Haj, einem Meister Erzähler, bei dem er in Lehre ging.

Wenn man die Artikel und die Literatur der letzten Jahre betrachtet, herrscht darin ein melancholischer Tenor. Geschichtenerzählen ist verdammt, wird in den Wirren der Moderne verschwinden. Eine Zeit lang hatte ich mich derselben modischen Melancholie verschrieben, aber solche Gefühle kommen von der älteren Generation und spiegeln wohl zum Teil auch ihre Ängste wieder. Wenn Geschichten wieder lebendig werden sollen, dann muss das über die junge Generation geschehen, die in der Moderne lebt und sie weniger überwältigend finden muss.

Mein letzter Besuch in Marrakesch hat mir gezeigt, dass das Erzählen absolut lebendig ist. Die Wege führten mich dabei sehr bald zum Café Clock.

Ein interkulturelles Café in der Kasbah. Eigentlich ist es eine Zweigstelle eines seit vielen Jahren in Fez etablierten Cafés, wurde aber von Beginn an mit eigenständigen und innovativen Ideen aufgebaut. Man mischt die marokkanischen Menüklassiker mit amerikanischen und europäischen Einflüssen durch, heuert junge englischsprechende Marokkaner als Personal an und zieht damit eine Mischung aus Touristen und jungen urbanen Marokkanern an. Das Café wird durch seine vielen Events, Musikabende und Hikayat – dem Geschichtenerzählen – zu einem wirklichen und lebendigen Treffpunkt zwischen zwei Kulturen.

Das Hikayat ist für mich – und auch für die Leitung des Cafés – das Herzstück. Haj, ein versierter Geschichtenerzähler, der früher noch auf der Jemaa el Fnaa erzählt hat, nimmt eine Gruppe von Stundenten unter seine Fittiche. Sie alle lernen ein Repertoire an Geschichten, auf Englisch und Darija, dem marokkanischen Dialekt. Diese Geschichten führen sie im Café an den Hikayat Abenden auf.

Das Projekt sucht sich ständig auszuweiten. Das Café sucht immer nach Leuten, die Ausbildung im Theater- und Schauspielbereich besitzen oder Sprechtraining und Bühnenpräsenz vermitteln können. Die Projekte dienen neben dem Erhalt der Erzähltradition auch der Stärkung von Frauen in der Gemeinschaft und dem sozialen Gefüge Marokkos.
Für ein Projekt, das vor einiger Zeit erfolgreich abgeschlossen wurde, gingen die zwei Erzählerinnen an eine Schule für Mädchen. Sie erzählten dort mit den Schülerinnen und ließen sie ihre eigenen Joha Geschichten erzählen – bloß dass Joha hier ein Mädchen war.

DSC_7444

Ein paar Tage bevor ich das hier schreibe waren Hajs Schüler zum ersten Mal auf der Jemaa el Fnaa und seit vielen Jahren konnte man auf dem Platz wieder Geschichten hören. Zum allerersten Mal auch aus den Mündern von zwei Frauen, Malika und Sahra. Die beiden sind die ersten Frauen die in der langen Tradition von Erzählern auf der Jemaa el Fnaa ihre Geschichten preisgegeben haben.

Die jungen Erzähler und die Tradition, die sie beleben, stellen für mich eine enorme Inspiration dar. Es ist schön mit Menschen zu sprechen, die Geschichten ernst nehmen und ein kleines Stück ihrer eigenen Tradition tragen wollen und können. Es sei jedem Besucher von Marrakesch ans Herz gelegt, am Donnerstag das Café Clock zu besuchen und das Hikayat selbst zu sehen.

Website: http://www.cafeclock.com

Fotos von Birgit Mühleder

 

Eine Version dieses Artikels erschien 2015 im Südwind Magazin.

Tenzin und der Wunsch nach Europa

Dieser Eintrag setzt die Geschichte fort, die ich mit “Der tibetische Bettler” begonnen habe. Unerwarteterweise (wie eigentlich alles in Indien) komme ich meiner Absicht mehr über die tibetische Exilkultur zu erfahren näher.

Ich wunderte mich mehrere Tage darüber, wie ich so etwas am Besten angehen könnte. In der Zwischenzeit besuchte ich ein paar der Mughal Ruinen, recherchierte die Geschichte der Stadt so weit mir das möglich war und machte ein paar Fotos. Ich war in einer der schlimmsten Hitzeperioden der vergangenen dreißig Jahre in die Stadt gekommen. Das machte jegliche Erkundung schwierig. Für zwei Tage kletterte der Thermometer sogar bis an die fünfzig Grad Celsius Grenze. An solche Tagen konnte man nur im Bett liegen und mehr oder weniger sanft vor sich hin schmelzen. Am Nachmittag, meistens hungergetrieben, erhob ich mich trotzdem und nahm die Metro in die Stadt. Dort fotografierte ich für ein paar Stunden, wanderte in der relativen Ruhe der alten Monumente herum oder setze mich in ein dunkles, gekühltes Restaurant und aß ein paar Bissen.

Es war sehr interessant die Mogulenvergangenheit der Stadt näher zu erkunden und die verblüffende Speichelleckerei des Gandhi Museum zu erfahren, das mehr dem Schrein eines Heiligen glich als einem Museum. Delhi besitzt auch ein vernachlässigtes, aber trotzdem fabelhaftes Nationalmuseum. Das alles half mir meine Tage sinnvoll zu machen, aber ich hatte immer noch keine Ahnung, wie ich meinen Plan mehr über Majnu-ka-tillas Bewohner herauszufinden, verwirklichen sollte.

Eines Abends aber war mir das Schicksal hold. Ich saß in einem Internetcafe und las gerade vom Absturz der Maschine des polnischen Präsidenten Kasczinsky und schrieb einigen polnischen Freunden, die von der Tragödie ziemlich getroffen waren, als mich ein junger Tibeter ansprach. Es tut ihm leid mich zu stören, aber er suche nach jemanden, der ihm helfen könnte Formulare für einen Visa-antrag korrekt auszufüllen. Die Formulare waren auf Englisch und weder er noch seine Freunde waren sich ganz sicher und einen Fehler zu machen würde heißen, das Ganze noch einmal machen zu müssen und viel Zeit zu verlieren. Ich zahlte schnell und war sofort draußen. So lernte ich Tenzin kennen.

Tenzin war kaum so lange in Indien wie ich selbst. Einige Tage davor war er aus Nepal, wo er als Englischlehrer in einer Schule in der Nähe von Kathmandu gearbeitet hatte, nach Delhi geflogen. Befreundete lamas, tibetische Mönche, hatte ihn gerufen. Sie waren auf eine buddhistische Konferenz in die Slowakei eingeladen worden und brauchten einen Übersetzer. Tenzin hatte Erfahrung darin. Drei Jahre zuvor hatte er eine ähnliche Gruppe nach Ungarn begleitet und für sie übersetzt. Jetzt stand ich mit ihm und zweien der Mönche vor dem Internet Cafe und sie beschrieben mir die Lage. Die beiden hatten noch nie um ein Visum angesucht, waren selbst kaum zwei Tage hier, waren noch nie in Europa. Alles was sie an Nervosität zeigten, war ein gelegentliches unsicheres Lachen. Sie warteten auf den Head Lama, ihren spirituellen Vorgesetzten, der wohl mehr über die Organisation wusste. Aber bis der hier war brauchten sie ihre Visas.

Kann so schwer nicht sein, denkt man, irrt sich dabei aber gehörig. Zuallererst einmal haben Tibeter strikt gesehen keine Pässe. Offiziell existiert Tibet nicht mehr. Die Tibeter haben entweder, wie die beiden Mönche, Registrierungskarten des Staates Indien, die sie als Flüchtlinge mit temporären Staatsrechten ausweisen oder sie haben, wie Tenzin, einen nepalesischen Pass, den manche auch unter falschem Namen führen. Um jetzt ein Schengen Visum zu bekommen brauchen sie diesen Pass, eine Einladung von einer Person aus dem Zielland, Kontake im Zielland, ein gültiges Hin- und Rückflugticket und Nachweis darüber das alle ihre Kosten während des Aufenthaltes in diesem Land gedeckt sind.

So weit, so gut. Tenzin und ich trafen uns mehrere Male in Restaurants und Hotels um alle Formalitäten zu klären und die Formulare so korrekt wie möglich auszufüllen. Sie hatten offizielle Einladungen, alle Rechnungen waren gedeckt. Es schien alles zu stimmen. Ich war jetzt selbst auch nicht sofort überzeugt, dass alles was mir Tenzin erzählte absolut wahr wäre. In Indien, so habe ich während meiner Aufenthalte gelernt, ist es gut jedem und allem mit einer Initialdosis Misstrauen zu begegnen. So lange man sich davon nicht überwältigen und blenden lässt…eine Wissenschaft an sich. Ich unterhielt mich viel mit Tenzin, zum einen weil ich ihn kennenlernen wollte, zum anderen weil ich auch genug Vertrauen aufbauen wollte, dass er mir bei meinem Vorhaben helfen würde. Er war ein sympathischer und offener Mann, zwei Jahre jünger als ich. Sehr impulsiv und oft auch unverantwortlich, für meine Begriffe, aber ich durfte bald lernen, dass das was wir als Verantwortlichkeit bezeichnen im tibetischen Rahmen nicht wirklich existiert. Er hatte seine Arbeit in Kathmandu aufgegeben und sein ganzes Geld für den Flug nach Delhi ausgegeben. Kein Nachdenken darüber, wie und wo er leben sollte, wie er essen würde. Er lebte sehr spontan – wenn Geld da war, wurde es ausgegeben. Wenn kein Geld da war, dann wurde nach Möglichkeiten gesucht Geld zu machen.

Bekanntschaften waren natürlich eine Art zu Geld zu kommen. Vor allem westliche Bekanntschaften. Die meisten Freundschaften und Bekanntschaften mit Indern oder Tibetern kommen irgendwann zu dem Punkt an dem man nach Geld gefragt wird. Man kann das jetzt sehen wie man will. Wird man aufs Widerlichste ausgenutzt? Wir man nur als wandernde Brieftasche gesehen? Oder ist man eben der reiche Freund, den man um Geld fragen kann weil er es hat? Es passiert genauso bei Tibetern untereinander…wenn einer Geld hat, ist das das Schlimmste was ihm passieren kann. Alle bitten ihn ununterbrochen um Unterstützung und es wird erwartet, dass er beim Essen einlädt. Persönlich will ich, das solche Freundschaften über Geld hinausgehen und habe im Laufe der Zeit einen etwas asiatischeren Zugang zum Geld entwickelt. Wenn ich habe, gebe ich. Wenn nicht, muss ich genauso arbeiten oder bitten.

Das Geld ist ein Knackpunkt für viele. Ich habe unzählige Konversationen darüber geführt und ebenso unzählige Beschwerden gehört. Die Inder betrügen, die sehen einen nur als wandelnde Geldbörse. Vor allem von Menschen, die mit hohen spirituellen Idealen nach Indien kommen oder humanitäre Arbeit mit Tibetern leisten wollen – viele werden enttäuscht, desillusioniert und kommen mit der Überzeugung zurück, dass sie dort nur ausgenutzt werden.

Man muss sich hier die Realität der Menschen vor Augen halten. Sicherheiten gibt es in Indien keine, außer man besitzt Geld. Von den vielen Menschen in den Tempeln betet ein Großteil sicher immer wofür? Für Geld. Indien hat nicht eine, sondern zwei Gottheiten, die für Geld und finanziellen Wohlstand zuständig sind. Lakshmi und Ganesha.

In Zahlen: Mehr als neunzig Prozent der Inder haben keinerlei finanzielle Versicherung. Sie leben von ihrer Hände Arbeit, oft von Tag zu Tag. Jemand, der in diesem Umfeld eine Gelegenheit mehr Geld zu machen verstreichen lässt, dem ist nach dem allgemeinen Urteil nicht zu helfen.