Marrakesh beginnt am Place Jemaa el-Fnaa und hört vielleicht auch dort auf, nachdem der Platz in einer möglichen Übersetzung „Die Moschee am Ende der Welt“ heißt. Die Übersetzung ist umstritten („Vorhof der Moschee“ ist eine andere Möglichkeit), aber die Stimmung des Platzes macht diesen Namen eindeutig zum Besten und Treffendsten.
Die Moschee am Ende der Welt ist ein Zirkus, ein Schauspiel und ein Fest – und das jeden Tag. Ein Spektakel, das Neuankömmlinge vielleicht befremdet, aber unmittelbar in seinen Bann zieht. Man spürt hier, dass die Arabischen Nächte, die Geschichten aus der unendlichen, der tausendundeinen Nacht, immer noch, kräftiger als bloße Erinnerungen, lebendig werden können.
Tagsüber zeigt sich der Platz von einer touristischen Seite. Dutzend idente Stände, die man bloß an der Intensität der Verkäufer unterscheiden kann, bieten Wasser und frischgepressten Orangensaft für durstige Kehlen an. Schlangenbeschwörer enthüllen ihre entzahnten schwarzen Kobras und lassen sie zu den Bewegungen ihrer Flöten tanzen oder hängen sie zu neugierigen Touristen für ein Foto um den Arm oder den Hals. Berberäffchen in ledernem Gewand und roten Hüten zerren an ihren Leinen und ihre Besitzer warten auf leere Schulten und bildgierige Kameras. Buntgekleidete Wasserverkäufer, schon längst in Folklore versunken und ohne tagtägliche Bedeutung für die Marrakchis, leben für ein paar Dirham auf den Bildern der Besucher weiter.
Vieles lebt in Marrakesh nur für ein paar Dirham (oder ein paar mehr). Die ärmeren der städtischen Marrokkaner besitzen oft einen sehr raschen Intellekt und wissen genau wie man die Besucher und den Inhalt ihrer Taschen einschätzen kann. Jeder ist ein Gaukler, seien es nun die Akrobaten die auf dem Platz aufeinender balancieren oder der Händler, der auf der Sicherheit, dass du seinen Preis annimmst, balanciert. Jeder ist ein Gaukler, jeder ist ein Händler, jeder ist ein Stadtführer. Alles hat seinen Preis und nichts, so mag man meinen, ist umsonst. Die Welt ist ein Marktplatz und was verkauft wird hat manchmal Substanz und ist manchmal bloß ein verwinkelter Traum.
Nördlich des Platzes erstrecken sich die endlosen überdachten soukhs. Ein Labyrinth der Sinne und der Lügen, prachtvoller Dinge und wertlosem Müll. Wie leicht es ist, sich dort zu verlieren, inmitten von perforierten und verzierten Lampen aus Messing, Schmuck und Ohrringen in endlosen Wiederholungen und Variationen, intarsierten Holzschatullen, Bergen von tausend Arten von Datteln, saftig, trocken, hart, frisch gewaschen und glänzend, süß und herb, von Nüssen und getrockneten Früchten. Babouches? Espices? Huile d‘Argan? Tapis? Marokkanische Pantoffeln, Gewürze, Arganöl, Teppiche. Das Auge wird nicht müde, aber die Gedanken kommen langsamer nach einer halben Stunde (oder einer Stunde – oder gar zwei? Die Zeit scheint hier anders zu laufen) in den soukhs.
Zu meiner Überraschung sind die Händler mit denen ich spreche ruhig, beinahe schüchtern. Ich hatte laute, leutselige Menschen erwartet, großspurige Araber. Aber nein, ruhig und entschlossen wird gehandelt, immer mit Stolz und beinahe Angst davor dass der Kunde geht ohne etwas zu kaufen. Die europäische Angst vor dem beweglichen Preis der Ware scheint mir plötzlich seltsam. Man will zahlen wie ein Einheimischer, sich aber nicht dem unwürdigen Feilschen unterwerfen. Dabei kann es unglaublich Spaß machen mit sorgfältig abschätzigen Kommentaren und Argumenten um sich zu werfen, Zorn und Empörtheit zu mimen, nur um dann mit einem Lachen abzuschließen. Mit dem Händler beim Tee zusammenzusitzen und sich zu unterhalten, sich gegenseitig abzuschätzen und den Preis im Kopf zu formen oder einfach über Gott und die Welt zu reden und dann zu zahlen, was verlangt wird oder was man in der Tasche hat. Als ob es etwas bedeuten würde, den richtigen Preis zu erwischen (den es oftmals nicht einmal gibt). Natürlich will man nicht fünfmal so viel zahlen, wie man sollte, aber dazu führt man ja ein Gespräch – um zu klären wie ehrlich das Gegenüber ist.
Nach Irrwegen durch die überdachten Märkte, findet man sich endlich wieder am anderen Ende der Jemaa el-Fnaa wieder. Hier erinnert ein verhängtes Gerüst an den Bombenanschlag auf das Argana Cafe im Jahr 2011, der angeblich von einem marokkanischen Abschlag von Al Qaeda verübt wurde – das Attentat stellte eine enorme Ausnahme, und auch einen großen Schock, für die Marrakchis dar, die nur in ihrer Gastfreundlichkeit zu Extremen neigen.
Gegen Abend erwacht die Moschee zum Ende der Welt erst richtig, wenn auch die Einheimischen auf den Platz strömen und sich das Spektakel deutlich verändert. Die Schlangenbeschwörer und Affenzüchter sind verschwunden und an ihrer Stelle findet man verschleierte Wahrsagerinnen samt ihren Karten, die Männern wie Frauen in konspirativen Tönen ihr Schicksal ins Ohr flüstern. „Haram“, also unrein, nennt das der strenge Moslem, aber den meisten Menschen wiegt die Neugier scheinbar größer als der Glaube, denn die Damen warten selten lange auf Kundschaft.
In Gruppen stehen dort vielleicht dreißig Männer. Sie formen Kreise, aber was umkreisen sie? Die einen umkreisen zwei junge Männer, die sich gegenseitig umtanzen. Sie beide tragen dunkelrote Boxhandschuhe und schätzen einander ab. Der eigentlich Kampf ist kurz und selten heftig. Das hier ist Rekreation, kein Wettkampf. Die Handschuhe liegen am Boden und jeder kann sie aufheben und auf einen Herausforderer warten. Die Umstehenden, die wetten natürlich fleißig darauf, wer denn als Sieger aus dem Match hervorgeht.
Musik dringt aus dem nächsten Kreis hervor. In der Mitte sitzt, um einen alten Verstärker gedrängt, eine Gruppe an Musikern mit Gesichtern, die auch an einem Feuer in der Wüste nicht allzu fremd erscheinen würden und in Lederjacken gehüllt. Die Gesichter der Zuhörer sind animiert und viele klatschen im Rhythmus oder nehmen den Refrain des Liedes auf und singen. Die Musiker wirken wie eine Gruppe Freunde, die aus der Vergangenheit gewandert kamen. Man müsste bloß das Gewand tauschen und schon würde man sich ein paar hundert Jahre in der Zeit versetzt wähnen.
Gnawa Musiker in bunten Kostümen spielen gleich daneben und gelegentlich vermischen sich die Rhythmen in einer wilden Kakophonie, aber niemand lässt sich weiter davon stören. Der gesamte Platz hallt in einer wilden Mischung aus Tönen, Musik und Stimmen, die einen gleichermaßen aufnimmt und erfüllt.
Eine Gruppe von Komödianten ist an diesem Abend die größte Attraktion. In drei vier Ringen stehen die Männer und die vereinzelten Frauen um sie und betrachten eine Mischung aus Schauspiel, Clownerie, Musik und Akrobatik. Sie seien im Fernsehen aufgetreten, sagt ein Mann neben mir unaufgefordert. „Marokko sucht den Superstar.“
Auf mitgebrachten Bänken oder Teppichen sitzen vereinzelte Geschichtenerzähler und weben ihre Bilder vor den Augen der amüsierten Zuhörer. Arabisch ist eine ideale Sprache um Geschichten zu erzählen, seien sie nun aus dem Koran oder dem reichen Schatz an Erzählungen und Märchen. Gutturale Töne, herrschaftliche Gesten, aussagekräftige Blicke. Auch wenn man nichts versteht, fühlt man die Erzählung, oder stellt es sich zumindest vor.
In einer Ecke tanzen zwei Frauen – auf den ersten Blick wirkt das seltsam und unerwartet. Frauen, die in einem islamischen Land öffentlich tanzen? Wenn man näher kommt löst sich das Rätsel. Es sind zwei Transvestiten, zwei Männer in Makeup und Schleier. Ein behinderter junger Mann kniet neben ihnen und schlägt wild auf eine Trommel. Sollen sie also eine Freakshow darstellen? Aber Behinderte werden mit größter Sorgfalt und Sorge behandelt, hier steht Marokko den zuvorkommendsten europäischen Ländern in nichts nach, also enthalte ich mich eines schnellen Urteils und beobachte. Ein Schauspiel, ein Kabaret vielleicht, entsprungen aus einer unterdrückten Fantasie. Die umstehenden Männer lachen und genießen den Tanz, hegen heimlich vielleicht ihre eigenen Fantasien von tanzenden Frauen oder ganz anderen Dingen.
Dazwischen ziehen Bettler durch die Menge, Zigarettenverkäufer klimpern mit ihrem Wechselgeld um die Aufmerksamkeit potentieller Kunden zu erwecken und Kinder und Frauen stupsen Vorbeigehende an um ihre Ware, Tempo Taschentücher, an den Mann zu bringen.
Die Hauptattraktion für Neuankömmlinge ist auch aufgebaut. Binnen knapp einer Stunde werden jeden Nachmittag aus dem Nichts gut fünfzig Garküchen samt Tischen und Bänken aufgebaut. Bunt angerichtet strahlen Fische, Gemüse und Kebabspieße die Besucher an und geschäftige Männer gehen mit Speisekarten gewappnet auf Kundenfang. Die Art wie Kunden überzeugt werden, in diese Bude und nicht in die nächste zu gehen, die variiert. Viele benutzen die Taktik der Übertreibung – und das in beeindruckend vielen Sprachen und Varianten. Auf Deutsch, Spanisch, Italienisch, Französisch (sowieso), Polnisch, Russisch, sogar Japanisch wissen die meisten in ihr Etablissement einzuladen. Natürlich ist hier das beste Essen und das Land aus dem der Kunde gerade kommt ist das beste Land überhaupt. Andere benutzen – durchaus sympathisch – eine ehrlichere Variante. Es gibt sowieso überall das Gleiche, also warum kommst du nicht zu mir. Sie haben recht. Jeder einzelne der Stände hat auf den Punkt die gleiche Speisekarte und eine Möglichkeit die Qualität herauszufinden ist zu beobachten, wohin es denn die meisten Marokkaner zieht. Natürlich kann es sein, dass die auch bloß Besucher in Marrakesch sind und sich ebenso hin und her gezogen fühlen. In dem Fall spaziert man einfach ziellos in die Menge und sieht, wer am Überzeugendsten ist. Inshallah. Gott wird es schon richten und mit gefüllten Magen kommt man auf jeden Fall wieder raus.
Nach einer Mahlzeit von harira (marokkanischer Suppe), Couscous oder Tajine, Fisch oder Fleisch, kann man noch eine andere Spezialität degustieren: Gegarte Schnecken, die samt ihrer gestreiften Häuser in kochendem Wasser zubereitet und mit einem Zahnstocher serviert werden. Nachtisch gibt es an einem Teestand, wo ein starker Tee aus sieben verschiedenen Gewürzen serviert wird, der auf Wunsch noch mit einem Löffel voll tränentreibendem Kampfer verstärkt werden kann. Dazu gibt es einen bittersüßen Kuchen. Kichernd warnt mich einer der nebenstehenden Marokkaner vor dem Kuchen. „Der ist für Paare,“ sagt er und fährt dann flüsternd fort: „Da ist etwas drinnen, das sehr geil macht.“
Jemaa el-Fnaa ist ein UNESCO Welterbe oder, genauer gesagt, ein Masterpiece of the Oral and Intangible Heritage of Humanity, ein Meisterwerk der mündlichen Überlieferungen und der nicht greifbaren kulturellen Werte der Menschheit. Der gesamte Platz und alle (oder wahrscheinlich die meisten) der auf ihm stattfindenden Aktivitäten stehen unter Schutz. Die sich Tag für Tag verändernde menschliche Landschaft des Platzes ist ein Meisterwerk an sich, eine Mischung aus Poesie und touristischer Folklore. Was denn Wahrheit ist und was Schauspiel, so eine Frage mag man sich stellen, vor allem beim Umgang mit den vielen Strassenhändlern und den etwas schattigeren Gestalten im Umkreis des Platzes, aber fraglos enthält der Platz etwas, das für Marrakesch essentiell ist.
Auf alten Fotografien sieht man, dass die Jemaa el-Fnaa einstmals ein Platz für Händler aus den umliegenden Dörfern war, eine Karawanserai, ein Marktplatz auf dem man sich traf um Güter, ebenso wie wichtige Informationen zu tauschen. Zelte wurden aufgebaut und Menschen umkreisten Musiker, Gaukler oder Geschichtenerzähler (die damals eine nicht zu verachtende politische Macht hatten, denn sie konnten Meinungen, oft sehr subtil, transportieren und in Abwesenheit von allgemeinen Medien war die laute Stimme des Einen von recht großer Tragweite). Alles war temporär, bis auf die überdachten soukhs.