Der tibetische Bettler

In Majnu-ka-tilla durfte ich einige interessante Begegnungen machen. Eine der dunkleren Seiten der Kolonie begegnete mir in Form eines schwarzen Schafes der kleinen Gemeinschaft. Ein Mann sprach mich an als ich auf dem Platz vor den beiden Tempeln saß. Er war klein, aber kräftig, nur sein Blick war seltsam leer. Er sprach mich auf Englisch an und wir unterhielten uns eine Weile. Als erstes sah ich, dass der Mann betrunken war…ein paar Momente später sah ich, dass das nicht ganz richtig war. Er war nicht so sehr betrunken, sondern er schien einen etwas nüchterneren Moment zwischen zwei Flaschen erwischt zu haben um mit mir zu reden. Sein Kopf war gesenkt und sein Blick war auf irgendeine verborgene Qual tief in seinem Geist gerichtet. Er sprach gutes Englisch, brüchig eher nur durch seinen Sprechrhythmus, der sprudelte und versiegte, sprudelte und versiegte. Seine Ausbrüche waren heftig, fast aggressiv, aber er schwand ebeso schnell wieder in Entschuldigungen und Abschwächungen. Er sei kein Bettler, sagte er mir fast zornig, als hätte ich es ihm vorgeworfen, und wenn es eines gäbe was ich über Tibeter wissen sollte, dann das: Tibeter betteln nicht! Er sprach weiter davon wie gut es sei, dass ich hierhergekommen war und den Tempel besucht hatte und er entschuldigte sich immer wieder – für sich selbst, für dieses, für jenes, für die Sonne, für den Mond. Für einen Moment ging er in eines der Geschäfte, wollte Tee holen – als er verschwunden war, flüsterte mir der Tibeter, der neben mir auf der Bank saß zu, ich solle dem Kerl nicht zuhören, er sei wahnsinnig. Als er wiederkam, hatte er den Tee vergessen, was aber höchst animiert und stieß ein paar Worte hervor – The Chinese People’s Police—und der Rest ging in einem finsteren Murmeln unter. Er war jetzt sehr niedergeschlagen. Er sei nutzlos, sagte er zu mir, können nichts tun und überlebte nur weil sich Leute um ihn kümmern. Dann streckte er seine Hände aus, zu einer Schale geformt. Ob ich ihm denn nicht helfen konnte. Es war klar, er hasste sich in diesem Moment selber, hasste es betteln zu müssen. Ich gab ihm ein paar Rupien und musste aufstehen und gehen.

Ich sah ihn später wieder, auf der Strasse, torkelnd oder die Welt aus zusammengekniffenen, zweifelnden Augen beobachten. Manchmal ging er neben Touristen, führte ein ähnliches Spiel aus Selbsthass und Bedürftigkeit auf. Manchmal sah ich ihn wie er für eine Gruppe lachender Tibeter einen ungelenken, sehr bemitleidenswerten Tanz aufführte. Er wurde für mich ein Bild für das, worüber alle in Majnu-ka-tilla lieber schweigen wollten. Die Schwierigkeit fremd zu sein, das lange und unabwendbare Leid, das eigene Zuhause verloren zu haben. Die Qualen und Gefahren, mit denen Tibeter auch heute noch leben. Kaum jemand sprach davon, weil sich die eigene Geschichte kaum von der des anderen unterschied. Mit einem Menschen, der vielleicht später aus derselben Region geflüchtet ist kann man sich kurz austauschen – wie es diesem und jenem geht, ob etwas zerstört wurde, Dinge die man direkt sagen kann, aber nicht in e-mails oder am Telefon.

Danach wurden manche Dinge deutlicher für mich. Ich sah Werbung an den Internetcafes – sieben Rupien die Minute für einen Anruf nach Tibet. Als ich einmal nachfragte, sagte man mir, dass es manchmal funktionierte die Menschen zuhause anzurufen und manchmal die Telefone blockiert waren. An den Wänden hingen Zettel auf denen man blutig geschlagene Gesichter sehen konnte. Politische Gefangene. Wie war die Situation in Tibet im Moment? War das Propaganda, oder Realität?

Ich wurde neugieriger. Ich wollte wissen, was die Leute zu erzählen haben. Aber wie sollte ich diese Barrieren, die ganz deutlich da waren, überwinden? Kann ich einfach jemanden auf der Strasse fragen ob er mir seine Geschichte erzählen will? Wie kann man zu den Leuten genug Vertrauen afbauen um etwas mehr als nur die normale Touristengeschichte zu bekommen?

Image Selection III


Two men in homespun clothes walking between the pools left by the first monsoon rain in Gurgaon


Rikshawallahs and workers taking a break from Amritsar’s summer heat.


 Schoolboy in the tiny Himalayan village of Leo racing to get himself and his drum in the right place.


The intent look on the young Tibetan’s face shows that he is just as much as musician as a monk, as he performs for a festival in the Dalai Lama’s palace in MacLeod Ganj.

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Die Träume des Riksha Wallahs

  Eine andere Art von Portraits – die Menschen erkennt man am Besten über ihre Träume. So verfälschend oder idealisierend oder realitätsfern sie sein mögen. Dort findet man einen Teil des Menschen, den man sonst vergeblich sucht. Diese Serie “Die Träume des…” soll solche seltsamen, konstruierten und doch, hoffentlich, irgendwie wahren Bilder indischer Menschen zeichnen.

Er hat die Flasche neben das Gottbild gestellt. Ein paar Schluck waren noch drinnen und an die denkt er, wenn er über die Strassen strampelt. Das Fahren selbst ist der schöne Teil der Arbeit; selbst wenn er in seinem Schweiß fast ertrinkt, genießt er die Arbeit. Die Busse blasen ihm Abgase ins Gesicht und sein Schal, den er sich vor Gesicht gebunden hat und an dem er in Momenten des Stresses halb bewusst herumkaut, ist am Abend fast steif vor Dreck, Staub und hinterlässt einen beißenden, bitteren Geschmack auf seinen Lippen, der Spitze seiner Zunge. Wenn er sich am Morgen rasiert oder (am Morgen eines guten Vortages) rasieren lässt, spürt er entfernt die permanente Irritation seiner Haut, als ob ein paar Millimeter unterhalb seines Gesichtes winzige kleine Feuer brennen. Seine Augen brennen vom Schweiß und Schmutz und machmal glaubt er, dass ihm der dreckige Schweiß nicht aus den Poren dringt, sondern aus den Augen.

Hinter seinen Augen hält er seine liebsten Bilder. Reisfelder und Hütten und der Dorfbaum um den Lays Chips Packungen glitzern wie Flitter in einem Tempel. Der lehmige, wunderbare Geruch im Zimmer seiner Kinder, der nach ihrem Schlaf riecht und nach ihren Bewegungen. Wenn er diesen Geruch riecht – ein Geruch, der sich jedes Jahr kaum merklich verändert, aber für ihn immer erkennbar bleibt – dann weiß er, dass er zuhause angekommen ist. In Träumen ist er jeden Tag bei seinen Kindern und stellt sich vor, wie sie wachsen, sich nicht verändern aber immer größer werden. Er kann es nicht erwarten, zuhause zu sehen was für neue Narben, neue Gedanken, neue Blicke seine Kinder haben werden.

Am ersten Tag zurück in der Stadt verbringt er viel Zeit damit, dieses Bild seiner Kinder auf den neuesten Stand zu bringen. Wenn er in seinem Geist so arbeitet, dann ist ihm gleichgültig, was ihm seine Passagiere zahlen. Dann lächelt er und hebt das Geld an seine Stirn und zählt es nicht.

Zählen tut er erst, wenn der Schmerz der Abwesenheit groß wird. Dann wird ihm klar, was das Geld für ihn heißt. Was es nicht nur für seine Familie heißt, denn der Großteil der Noten die von fremden Händen in seine wandern sind für seine Frau, sondern dass es für ihn eine Zugfahrkarte heißt. Dass er seine Riksha für zwei Monate vermieten kann an einen neuen, der sich Geld verdienen muss um seine eigene zu kaufen. Dass er den Geruch wieder in seiner Nase spüren kann.

Wenn der Schmerz groß ist, weiß er, sind die Bilder seiner Kinder in seinem Kopf nur mehr Puppen der alten Zeit. Zuhause laufen sie anders durch die Welt und der Schmerz kommt von Unwissenheit und Wissen, dass die Bilder in seinem Kopf die falschen sind.

Dann hilft ihm ein Schluck aus der Flasche. Oder die Erinnerung an den Schluck. Er hat nur eine Flasche und oft, monatelang, hindert er sich daran, sich an den Geschmack auch nur zu erinnern – dann ist der Gedanke selbst so frisch, so kräftigend wie der Schluck selbst. Und erst wenn die Erinnerung ganz verblasst, dann nimmt er einen kleinen, wirklichen Schluck.

Bis dahin ist es noch lange. Er steht jetzt in der Mitte aller Dinge. Er dreht sich zu seinem Fahrgast um. „Wrong side tik hai?“

Ein Nicken und er dreht sein Gefährt in den Strom der entgegenkommenden Fahrzeuge und tritt in die Pedale, bis er den Schweiß stechen spürt.

Majnu ka Tilla – Tibetische Seidenstrasse in einer Millionenmetropole

In Norden von Delhi, in einem Gebiet namens Majnu-ka-Tilla, lebt eine kleine Gemeinschaft von Tibetern. Die Tibeter werden seit fünfzig Jahren von den Indern aufgenommen, wenn sie ihr Heimatland aufgrund der politischen und menschlichen Umstände verlassen müssen und sich entscheiden ein neues Leben in der Präsenz des Dalai Lama zu führen.

Ihre Exilgesellschaft in Indien haben sie sich, so weit das möglich ist nach dem Muster der tibetischen Klostergesellschaft aufgebaut – die unterschiedlichen Sekten und Glaubensrichtungen besaßen in Tibet jeweils ein zentrales Kloster und ebenso haben es die religiösen Oberhäupter in Indien gehalten. Die Gelbhutsekte, denen der Dalai Lama vorsitzt, und die Exilregierung selbst hat ihren Sitz in MacLeod Ganj, einem Teil der kleinen Stadt Dharamsala. Andere Schulen finden sich in Dehradun und in Sikkim, nicht weit entfernt von den Bergen aus denen sie ursprünglich stammen, aber auch tief im Süden, in einer Stadt namens Mysore, gibt es ein Zentrum der Tibeter. In Delhi leben die Tibeter so weit als möglich isoliert vom Rest der Stadt und haben ihre eigenen Einkommensmöglichkeiten. Das Viertel haust gut und gerne vier- bis fünfhundert Sesshafte und nocheinmal etwa zwei bis dreimal so viele Durchreisende. Ein Großteil der gut sechs-, siebenstöckigen Bauten dient als Hotels oder dharamsalas, Pilgerstätten, die allen Gästen offen stehen, die meisten davon mit angeschlossenen Restaurants, die alles von traditioneller tibetischer Küche bis hin zu Pizzas servieren können. Die meisten sind in Familienbesitz. Manche sind ganz traditionell, mit winzigen Zimmern und ehrbaren Großmüttern an der Rezeption, andere sind mit großem Geschäftssinn betrieben und wieder andere dümpeln etwas gleichgültig dahin. Regiert wird es, nach indischem Vorbild, von einem panchayat, einem dörflichen Rat.

Man darf nicht den falschen Eindruck gewinnen, wenn man sagt, dass Majnu-ka-tilla eine beliebte Touristengegend ist. Man sieht hier, auf den schmalen überfüllten Gassen und in den Internet Cafes, zwar mehr weiße Gesichter als im Rest von Delhi und findet ebenso einiges an Antiquitätengeschäften, die sehr wohl einem reicheren westlichen Markt zugeschnitten scheinen, aber der Anteil an nicht-Asiaten ist doch sehr gering. Viele fühlen sich von der tibetischen Präsenz angezogen oder machen hier nur einen Zwischenstopp bevor es weitergeht nach MacLeod Ganj. Es geht verhältnismäßig ruhig und gemächlich zu, in Majnu-ka-Tilla.

Manchmal mieten sich brahmanische Studenten aus der nahegelegenen Vishwavidyala, der Universität von Delhi, ein Zimmer um dort vollkommen unbrahmanischen Verlockungen nachzugehen – Hühnerfleisch und vielleicht sogar einen Schluck Alkohol. Die Tibeter bieten auch ihnen eine momentane Freiheit von den strikten sozialen Zwängen. Bis auf solche sporadischen Gäste, sind die einzigen Inder jene, die hier nach Profit suchen. Junge Biharis oder Muslime, die als billige Arbeitskräfte von einigen der Hotels eingestellt werden. Obsthändler, die schwer beladene Karren durch die Gassen schieben, Chaiwallahs, die mit ihren Kannen voll Milchtee am Morgen herumziehen, Schuhverkäufer, Korbmacher, Zuckerwattehändler, Ohrenputzer, Rikshawallahs, die begeistert und energisch klingeln wenn sie mit schwerbeladenen Rikshas einen Gast, der auf seinen vielen
Koffern zu balancieren scheint, durch die Menschenmenge befördern. Auch Leute wie der Betreiber eines Videospielladens und Internetcafes, wo man mitunter auch junge Mönche in ihren Roben finden kann, die in den späten Abendstunden und vielleicht mit dem Hauch eines schlechten Gewissens Call of Duty oder Need for Speed spielen; sich für ein paar Stunden in einen Soldaten oder einen Rennfahrer verwandeln, bevor sie mit einem momentanen Seufzen oder erhoben vom Adrenalin der unmöglichen virtuellen Erfahrung wieder in den belebten Strassen verschwinden – sie alle kommen unter Tags nach Majnu-ka-tilla.


Dominiert wird das Viertel aber zweifellos von den Tibetern. Neben den Hotels und Restaurants gibt es kleine Essbuden und viele winzige Geschäfte, wo man tagtägliche Notwendigkeiten wie Seife, Zahnpaste, Mosquitoschutz oder die überall vorhandenen Lays Chips kaufen kann (man lernt schnell, die eigentliche Grenze einer jeden indischen Stadt noch weit vor den ersten Häusern an der Präsenz von leergegessenen, weggeworfenen Lay Chips Packungen zu erkennen). Gegenüber findet man kleine Stände, wo Plastikplanen Schatten spenden und Schuhe, Kunststoffschlapfen, Stoffe und malas, Rosenkränze, und rituelle Utensilien verkauft werden. Das ist die Hauptstrasse von Majnu-ka-tilla oder der New Aruna Nagar Colony, wie ein rostgefressenes gelbes Schild über der schmalen Gasse die von der Schnellstrasse nach Norden in die Kolonie führt, verkündet. Die Kolonie hat den Namen Aruna Nagar von Sheila Dixit, der Bürgermeisterin von Delhi, erhalten, in Ehren dafür dass die Tibeter ein ärmliches, fast elendes Viertel zu einem lebendigen und wirtschaftlich relativ erfolgreichen Ort gewandelt haben. Samyeling taufte der Dalai Lama die kleine Kolonie, von der aus Tibeter in alle Himmelsrichtungen in die Welt hinaus reisen.
Verwunderlich für Neuankömmlinge sind vielleicht die vielen Reisebüros. Fast jedes vierte Geschäft bietet Busreisen nach Mysore, Dharamsala, Rajasthan. Sie tragen oft buddhistische Namen – Dharma Tours, Three Jewels Travels – und bestehen aus einem Raum in dem zwei oder drei Männer um ein Telefon und einen Computer sitzen. Majnu-ka-tilla gibt einem das Gefühl eine Art Außenposten zu sein, ein Ort an den man kommt, wenn man auf der Durchreise ist oder Verwandte in der Gegend besucht. Manche Bewohner scherzen, Majnu-ka-Tilla sein die „moderne Seidenstrasse“, der Hauptposten auf den langen Reise- und Handelswegen der tibetischen Gemeinschaft. im 21. Jahrhundert.


Wenn man der Hauptstrasse folgt, findet man an einem Ende eine Gruppe von hohen Tamarindenbäumen. Von einem Balkon oder dem Dach eines der Hotels kann man Eichhörnchen beobachten oder Bussarde, die auf den oberen Ästen sitzen und nach Beute Ausschau halten. Man kann auch weiter blicken, über die Yamuna, den Fluss, der sich durch Delhi schlängelt. Majnu-ka-tilla liegt am Ufer der Yamuna und man kann den diesigen Sonnenaufgang beobachten – ein klarer roter Ball, der sich über die Wälder am anderen Ufer hebt und dann den ganzen Himmel rot färbt, bevor im Laufe des Tages die Abgase der Stadt zu dicht werden und kein direktes Licht mehr durchlassen. Am Ufer selbst kann man kleine Hütten sehen, die von Bauern bestellt werden solange der Boden fruchtbar ist. Bohnen und Spinat, gedeihen am einfachsten und schnellsten hier. Die Bauern sind Familien, die in rasch zusammengebauten Hütten aus Holz und Plastik leben.
Wenn im Sommer der Monsun einsetzt, wird sich der Wasserspiegel heben und die Felder und die Zelthütten wegschwemmen. Die Bauern müssen hoffen, in der Saison genug Ertrag zu machen um die Monsunzeit irgendwo überdauern zu können.
Weiter flussaufwärts kann man eine schwimmende Brücke sehen, über die ein steter Strom an Menschen und Autos fließt. Sie wird von Lufttanks getragen, die im Fluss treiben, und stellt wohl eine bescheidenere Variante der berühmten schwimmenden Brücke dar, die bis ins neunzehnte Jahrhundert beim Roten Fort die Yamuna überquerbar machte.

Auf der anderen Seite des Flusses hört die Stadt plötzlich auf. Dort sieht man nur niedrige Bäume und vereinzelte Hütten. Hin und wieder blitzen die schwarzen Karosserien von Autorikshas zwischen den Bäumen auf und wackeln dann über die holprige Sandstrasse Richtung Brücke. Männer in frisch gebügelten Hemden oder in dreckige Tücher gehüllt und mit Bündeln beladen und Frauen in Saris wandern am Strassenrand entlang, zwischen Motorrädern und den Staublawinen, die vorbeifahrende Marutis aufwerfen. Man fühlt, dass vielleicht etwas Wahres daran ist, dass Indiens Städte nur eine Menge zusammengehäufter Dörfer sind.

Was von oben schön aussieht, wird weiter unten schwer erträglich. Zwischen den Bäumen liegen Haufen von weggeworfenem Plastik und ein ekelhafter schwefeliger Gestank steigt von Wasserlacken auf. Hunde stöbern durch das Plastik und schrecken kleine Affen zurück auf die niedrigen Äste. Dazwischen Menschen, so vertieft in ein Gespräch oder ein Spiel, man könnte glauben sie sitzen im schönsten aller Parks. Überall hängt der Gestank von Abwasser und Scheisse. Gemischt mit den Abgasen, die im Laufe des Tages von der Schnellstrasse herübertreben, hat man bald das Gefühl, dass die eigene Nase taub wird.

Am anderen Ende der Hauptstrasse windet sich die Strasse und wird schmaler. Man lässt die Hotels und Restaurants hinter sich und betritt den älteren Teil der kleinen Kolonie. Kinder wandern durch die Gassen, sowohl Tibeter auf dem Weg zur Schule als auch indische Bettelkinder und Müllsammler. Viele von ihnen tragen Bündel mit Gemüse, das sie nachhause bringen oder, im Falle der Ärmeren, Plastikflaschen, die sie sammeln um die dann für ein paar Rupien an Geschäftsleute, die es weiterverwenden können, zu verkaufen. Recycling wird in indischen Städten von den Ärmsten betrieben und stellt für viele ihre Einnahmensquelle dar. Es gibt auch in dieser Berufssparte Spezialisten, wie die jungen Männer, die alles nach Kupfer- und Messingdrähten durchforsten, die als stromleitendes Material einen hohen Preis bringen können. Unter den Tibetern gibt es de facto keine Bettler. Durch Fenster und Türen kann man in Werkstätten blicken wo Gruppen von Männern Metall und Blech zu Kelchen und Ritualgegenständen formen, die dann in einem der vielen Geschäfte verkauft werden. Man wirtschaftet hier mit einem klaren Blick auf Autonomie – die Tibeter produzieren kaum etwas, was den Indern im Rest von Delhi Nutzen bringen könnte, sondern alles wird für die kleine Kolonie und ihre Bewohner, ständig oder vorübergehend, gefertigt.


Durch die windenden Gassen erreicht man einen Ort wo es neben den vielstöckigen modernen Bauten noch andere gibt. Die Kolonie ist knapp fünfzig Jahre alt. Die indische Regierung stellte den ersten tibetischen Flüchtlingen das Sumpfland am Ufer der Yamuna zur Verfügung und die ersten dort errichteten Häuser haben sich einen leichten tibetischen Touch erhalten. Ein Erd- und ein Obergeschoss, verbunden mit einer Treppe und hölzernen Leitern. Das beste Beispiel ist eines der größten Häuser der Kolonie – in eben diesem Stil errichtet besitzt es sogar einen kleinen Garten mit einem dürren Baum, auch wenn es schwer ist, den unter all dem Plastikmüll als Garten zu erkennen. Das Haus gehört, wie ich später erfahren darf, dem obersten Lama des tantrischen Tempels.
Majnu-ka-tilla besitzt zwei Tempel. Einen regulären und einen tantrischen. Der Unterschied zwischen Tantra und regulärem tibetischem Buddhismus ist relativ komplex, kann aber so zusammengefasst werden: ein tantrischer Mönch sieht die Welt nicht als etwas an was durch Askese gemieden werden muss, sondern er erlangt seine spirituellen Reichtum durch direkte Interaktion mit der Welt. Entstanden aus der schamanischen Tradition der Bön, stellt Tantrismus heute eine geachtete Alternative zu „regulärem“ Buddhismus dar. Ein tantrischer Mönch darf eine Familie gründen und Alkohol und Fleisch zu sich nehmen. Unter Mönchen und Laien gilt der tantrische Weg als der schwierigere, auf den sich nur sehr gefestigte Persönlichkeiten wagen können.


Die beiden Tempel lassen sich von außen und vom ungeübten Auge nicht unterscheiden. Sie stehen nebeneinander auf einem großen Platz, der von den Bewohnern von Majnu-ka-tilla für Zusammenkünfte und Zeremonien genutzt wird. Die Türen zu beiden Tempeln sind mit Vorhängen verhangen und von außen hört man hin und wieder rhythmisches Trommeln aus dem Inneren. Die Tempel sind aus farbigem und lackiertem Stein erbaut – Verzierungen auf dem Dach, das Rad und die beiden Rehe, verweisen auf Buddha und seine erste Predigt, die er im Deer Park, dem Rehpark, gehalten hat und bei der alle seine Zuhörer der Legende nach Tiere waren. Buddha wird in der Skulptur, einer indischen Tradition folgend, oft als Rad oder als Fußabdruck, als Bettelschale oder als Baum dargestellt.

Im Inneren der Tempel findet sich ein anderes Bild – kein karger Symbolismus mehr, denn dort findet sich eine verwirrende Vielfalt an Götterbildern, Statuen, Personen. Sie stehen in mehreren Reihen und tragen of khagtas, die weißen Schals, die als Glücksbringer bei Zeremonien ausgetauscht werden, um ihre Schultern gewickelt. Kleine, vielleicht dreißig Zentimeter große Figuren aus Holz, Ton oder auch Metall, die jene Lehrer und Weise darstellt, die Träger und Erhalter der Weisheit der ersten Erleuchteten waren.
Eine goldblattverzierte Figur mit den Attributen eines Heiligen steht im Hintergrund, davor kleinere, gröbere Figuren aus Ton, ihr Ausdruck irgendwo zwischen verzückt und tiefernst, gehüllt in dunkelroten Stoff oder einen weißen khagta. Je weiter man dern Reihen nach vorne folgt, umso lebensechter werden die Gesichter, umso weiter reist man in der Zeit nach vorne, bis man schließlich bei den an die vordersten Figuren gelehnten Fotos ankommt; man verfolgt die Reinkarnationen von grobem Ton, über immer feinere Schnitzereien, bis hin zu den klaren, unmissverständlichen Zügen auf den Fotografien.

Eine spirituelle Reise durch die Zeit und ein anderer, zweckmäßiger Blick auf den Fortschritt der Technik. Hier ist sie nicht Selbstzweck, sondern dient dem Ausdruck des Menschlichen, des Glaubens.

Die Tibeter legen in der religiösen Überlieferung enormen Wert auf die sogenannte Transmissionslinie. Ganz kurz: Menschen sind alle im Kreislauf des Lebens, in Samsara, gebunden. Laut der einfachsten mönchischen Tradition gibt es einen Kreislauf der Wiedergeburten, bestimmt von Karma, der Balance der guten und schlechten Handlungen eines Lebens. Die religiösen Meister sollen sich so weit entwickelt haben, dass sie diesen Kreislauf durchbrechen können und ihre Wiedergeburt selbst bestimmen können. Der Geist des Meisters und damit all sein Wissen wird im realen Sinne übertragen – ein Wiedergeburt findet statt und die Linie dieses Meisters besteht weiter. In vielen Tempeln sieht man kleine Tonfiguren oder in schmucke Roben gekleidete kleine Statuen, die eben diese Linie darstellen sollen. Fast alle Linien lassen sich auf große Persönlichkeiten aus der tibetischen Geschichte zurückführen und stellen so, neben der religiösen Bedeutung, auch eine geschichtliche Aufzeichnung dar, insbesondere da es in der tibetischen
Tradition beinahe keine Geschichtsschreibung gibt, die sich nicht ins Mythische verläuft.

Neben diesem spirituellen Stammbaum findet man in Tempeln Statuen der verschiedenen Inkarnationen und Aspekte des Buddha. Religionsgeschichtlich vermutet man, dass diese unterschiedlichen Aspekte im Frühen Mittelalter aus der Vermischung des aus Indien kommenden Buddhismus mit den lokalen Traditionen der Tibeter entstanden sind, aber im esoterischen Glauben repräsentieren sie die sogenannten Bodhisattvas – also vollkommen realisierte Persönlichkeiten, die es durch ihr eigenes Vermögen geschaft haben aus dem Kreislauf auszubrechen. Es gibt im tibetischen Glauben eine Vielzahl solcher Bodhisattvas, aber am Häufigsten abgebildet findet man Avalokiteshvara, den ursprünglichen Bodhisattva und Ausdruck des Mitgefühls aller Buddhas, und Padmasambhava, den Gründer der buddhistischen Tradition in Tibet.

Die Tempel werden von zwei kleinen Gruppen von Mönchen gepflegt. Unter Tags sieht man sie meistens bei kleinen Arbeiten wie dem Putzen von rituell benutzten Schalen oder im Gespräch mit Menschen aus der Kolonie, die sie ansuchen ihre Bitten und Wünsche an die Gottheiten weiterzuleiten. Einen Großteil ihres Tages verbringen die Mönche im Gebet oder im Ritual. Rituale für Kranke, für Menschen, die sich auf eine Reise vorbereiten, für eben Verstorbene, für Hochzeiten, Geburten…die Mönche haben immer zu tun.

Das Chaos indischer Städt entsteht vor allem durch die Unfähigkeit Menschen und Dinge zuzuordnen. Wenn man beginnt zu verstehen, dass alles aus einer Vielzahl von eigentlich sehr streng geordneten Gemeinschaften besteht, löst sich auch der schwindelerregende Eindruck aus, den ein Ort wie Delhi auf den ersten Blick in einem auslöst. Majnu-ka-Tilla ist ein guter Ort, sich von so einem kulturbedingten Schwindel zu erholen und die Stadt, Stück für Stück, besser zu verstehen.

Göttergeschichten, Kolonialismus und High Tech – Literatur über Indien

Literatur zum Thema Indien – das geht jetzt über den Lonely Planet, Stefan Loose, Footprints etc. hinaus…falls sich jemand fragt, was er oder sie denn zum Thema Indien lesen kann und sollte – hier eine Liste an Titeln samt einer kurzen Beschreibung. Die Bücher sind teilweise nur in englischer Sprache zu erhalten, aber das wird wohl die wenigsten stören. Wenn es meine Zeit erlaubt, werde ich ein paar eingehendere Besprechungen der Bücher schreiben.

Angefangen bei einem (wenn auch nicht unumstrittenen, aber ich lasse jetzt gezielt Debatten über Kolonialismus und Post-Kolonialismus aus) klassischen Autor zum Thema – Das Dschungelbuch von Rudyard Kipling. East is East and West is West hin und her, aber die beiden trafen sich sicherlich in Kiplings Geschichten von Maugli, Kaa, Bagheera oder Rikki-Tikki-Tavi…wenn man sichergehen will, dass das eigene Kind sich für andere Welten als nur die eigene interessiert, kann man mit Kipling nicht danebengreifen. Wer mit einer indo-viktorianischen Fabel von Spionen und weisen Männern weitermachen will, der sollte sich auch gleich Kim schnappen.

  Roberto Kalasso ist ein italienischer Mythenforscher. Wie kein anderer verknüpft er Geschichten der Götter mit Philosophiegeschichte und versieht sie mit moderner Relevanz. Ka heißt sein wilder Zug durch das indische Reich von Göttern und Mythen.

Wer eher das trockene Reich der indischen Geschichte bevorzugt, dem sei der schottische Historiker John Keay ans Herz gelegt. Der Wälzer India: A History ist so ziemlich genau das was am Deckel steht, aber weit umfassender und einsichtiger als vieleandere ähnliche Werke und mit einem ab und an aufblitzenden (wie kann es anders sein) trockenen Witz.

Wer auf zwieder und bissig steht, der sollte mit V.S. Naipauls kaustischem Werk India – A Million Mutinies Now bestens versorgt sein. Ein Reisebericht und Teil der Indien Trilogie des Autors, in dem Naipaul darauf erpicht ist, die Skurrilitäten und Dummheiten in Indien vorzuführen.

Milder und weitaus indischer geht es in den Büchern von Pankaj Mishra zu. Butter Chicken in Ludhiana ist jedem zu empfehlen, der Indien aus einer indischen Perspektive kennenlernen will und sich vielleicht auch fragt, wie denn Inder wirklich die westlichen Besucher sehen.

  William Dalrymple heißt einer der besten Autoren zum Thema Indien. Ein Historiker und Journalist, der in seinen eingehenden Studien historische Persönlichkeiten wie den letzten Mogulkaiser, prominente Indo-Europäer oder Tiefgläubige aus einfachen Verhältnissen darstellt. Anders als bei vielen europäischen Autoren, liegen seine Sympathien voll auf der Seite der von ihm portraitierten Menschen. City of Djinns ist ein wunderbares Einstiegswerk.

  Being Indian von Pavan K. Varma ist ein eigentümliches Buch. Teilweise eine unverhüllt zynische Abrechnung mit dem indischen Charakter, gepaart aber mit Verständnis und auch Amüsement für ebendiese Eigenart. Wer einen Leifaden möchte um indische Geisteshaltungen besser zu verstehen, greift am Besten zu diesem Buch.

Wer sich Indien auf einer direkteren Strecke nähern will, kann zu den Nationalepen Mahabharata und Ramayana greifen oder sich mit den buddhistischen Versen des Dhammapada auseinandersetzen.

Mystiker und Kriegslords – die schwindelerregende Geschichte von Neu Delhi

Nach einem etwas wilderen Einstieg setzt aber bald Faszination ein.

Als Stadt sagt man Delhi nach, dass sie von allen indischen Megastädten am wenigsten Charakter hat. Die meisten Besucher der Stadt verlassen sie mit dem dubiosen Kompliment, dass Delhi nicht ganz so furchtbar ist wie Chennai. Backpacker, die ihre seltsamen Ranglisten auf Städte in ganz Asien ausgedehnt haben, lassen Delhi immer im untersten Drittel rangieren. Delhi besitzt weder den Bombast und die schier überwältigenden Dimensionen von Mumbai, mit zwölf Millionen Einwohnern die größte Megalopole der Welt, noch die kulturelle Prägung und relative Entspannung von Kolkata.

Delhi ist heiß, stickig, hoffnungslos chaotisch und wenn man über die Stadt spricht beginnt man meistens, so wie ich, sich für sie zu entschuldigen.

Wobei man der Stadt damit eigentlich Unrecht tut. Was der Stadt an Freundlichkeit fehlt, das gleicht sie mit einer fast schwindelerregenden Tiefe aus. Delhi zu kennen ist nicht einfach, vielleicht sogar unmöglich, aber der Besucher erhält immer wieder überraschende und erschreckende Einblicke, Fenster und Türen, die sich einen Moment lang öffnen, und schon ist man gefangen. Man will mehr wissen. Während Rom auf den Ruinen der Vorgängerstädte erbaut wurde, ist Delhi einfach neben oder mitten in ihren zerstörten Inkarnationen wieder aufgetaucht. Delhi ist wie kaum eine andere Stadt der Geschichte überlaufen und eingenommen, zerstört und wieder aufgebaut worden. Wenn umtriebige Stämme und Heerscharen in Indien einfielen war das erste an das sie dachten, sich Delhi unter den Nagel zu reißen und somit die nordwestliche Ebene zu kontrollieren. Die heutige Stadt ist eigentlich die siebte oder achte Inkarnation von Delhi.

Zu der Zeit in der Mythos und Geschichte ineinanderfließen, da stand Indraprastha, die legendäre und uneinnehmbare Paradiesestadt der Pandavas, nahe dem Ort am dem wir heute Delhi finden. Das utopische Indraprastha, das man in den Zeilen des Mahbharata findet, klingt zutiefst faszinierend. Das Mahabharata erzählt das Epos der Pandavas, fünf Geschwister, alle verheiratet mit der selben Frau, Draupadi, und wie sie diese Frau und ihre Blutfehde und den Krieg gegen den verfeindeten Clan der Kauravas gewinnen. Die Stadt Indras, gegründet mit Hilfe des Gottes Krishna, ist ein Ort voller Mangobäume, Palmen, Badehäusern – die asiatische Utopie, die man heute in teuren Resorts finden kann.  Zu einem gewissen Zeitpunkt wandern die Helden – oder ihre Sprösslinge – aus den mythischen Zeilen und werden in den unterschiedlichsten Aufzeichnungen gefunden – aus Mythos wird langsam aber sicher Geschichte. Ein hinduistischer Klan, die Dhillon, gründeten das erste historisch belegte Delhi. Es war damals die Hauptstadt eines lokalen Klans und blieb das für lange Jahre, verblieb in relativer Ruhe und Unwichtigkeit (viel wichtigere Dinge passierten damals, wie wir schon gehört haben, östlich von Delhi). Einfallende Stämme wie die Hunnen oder die Griechen auf Alexanders Götterzug drangen zwar bis nach Gujarat vor, aber wenn sie es schafften die schneebedeckten Pässe zu überleben und die reißenden Flüsse zu überqueren, verloren sie sich zumeist in den Wäldern, wanderten demotiviert und durstgeplagt in Wüsten oder fielen den unbekannten und besorgniserregenden Krankheiten der Fremde zum Opfer.

Aber nichts hält ewig und auch die widristen geographischen Gegebenheiten lassen sich, wenn nicht auf einmal, so doch über mehrere Generationen überwinden. Im Mittelalter wurde Delhi den Hindus entrissen als eine islamische Armee, die sogenannte Sklaven Dynastie bis zum Yamuna Fluss vorstieß und die Mauern von Delhi überrannte. Das unglückliche Schicksal der Hindu Dynastie hieß aber auch ein glücklicheres Schicksal für die Stadt an sich: nun war Delhi als ein Machtzentrum der muslimischen Herrscher ein wichtiger Knotenpunkt, über die nächsten fünfhundert Jahre wurden von den unterschiedlichen dynastischen Herrschern weitere Inkarnationen Delhis gegründet.

Die ersten muslimischen Eroberer ließen eine gewaltige Moschee errichten, die Qutb Minar, deren Ruinen man heute im Süden von Delhi besichtigen kann. Dort hebt sich heute noch ein dominierender Gebetsturm und man kann inmitten der Gerippe alter Bauten und zwischen indischen Familien und westlichen Touristengruppen den Geistern der Vergangenheit lauschen.

Tugluqhabad war die erste städtische Befestigung der Muslime. Heute ist es eine gewaltige, leere Ruine im Osten der Stadt. Der verfallene Stein wirkt so roh wie der Name klingt – ein gewaltiges Fort, so trutzig wie die Bauten im heutigen Rajasthan. Darin findet man Zwiebeltürme und eingestürzte Prunkhallen, die zwar den muslimischen Charakter besitzen, aber weit weniger fein und beeindruckend wirken als ihre Nachfolgebauten.

Unter den Mogulen erreichte Delhi seine Hochblüte. Die Bauten aus dieser Zeit sind weltweit bekannt und gelten in vielen Fällen als unübertroffene Wunder der Architektur. Man sagt allgemeinhin, dass die Mogulen – eine muslimische Dynastie, die sich der Abstammung von Timur und Genghis Khan behaupten konnte – Delhi zu ihrer Hauptstadt machten. Einige der Mogulen waren allerdings als „Zeltmonarchen“ bekannt, das heisst sie pflegten trotz heftiger Bautätigkeit keine fixe Hauptstadt, sondern zogen samt Zelten, Hofstaat und Leibgarde durch ihr Herrschaftsgebiet. Obwohl dem ersten Mogulkaiser Akbar in mehreren Städten Prunkbauten errichtet wurden, heißt es von ihm, dass er lieber seine Zelte im Hof oder vor der Stadt aufgestellt hat und dort einen typisch mongolischen Hof hielt.

Humayun, der Sohn von Akbar, errichtete die Purana Qila, ein massives Fort, den zentralen Teil der von ihm erträumten Stadt Dinpanah – dem Refugium der Gläubigen. Er hatte die Stadt als einen Ort konzipiert, wo muslimische Gelehrte aller Glaubensrichtungen zusammenkommen und unter den Fittichen des Kaisers studieren und debattieren konnten.

Shah Jahan, Akbars Enkel, hielt es anders. Er prägte das Bild Delhis mit zwei Gebäuden, die bis heute nichts von ihrer Anziehung verloren haben und hielt einen prunkvollen Hof in Delhi und im nicht weit entfernten Fatehpur Sikri. Die Altstadt Delhis heißt bis heute Shahjahanabad, die Stadt des Shah Jahan. Es fällt leicht, die Stadtmauer im Getümmel der alten Stadt zu übersehen, ist sie doch einer der chaotischten Teile von Delhi.

Zurück in der Gegenwart schießt die Rikshaw um eine Kurve und durch eines der sieben Tore, die zu Shah Jahans Zeiten in alle Richtungen seines Reiches offen standen und alle Strassen zu seinem Thron führten. Für einen ahnungslosen Beobachter wirken die Strassen von Alt-Delhi leicht wie ein menschlicher Ameisenhaufen – es scheint kein Ende an Menschen zu geben und es fällt schwer überhaupt Details auszumachen. Bevor man seine Eindrücke ordnen kann, ist man meist schon auf der Chandni Chowk, der weiten Strasse, welche die beiden prägenden Gebäude Shah Jahans, das Rote Fort und die Jama Masjid, die Freitagsmoschee, miteinander verbindet. Zu Zeiten als das Reich der Mogulen schrumpfte und Delhi und das Land um Delhi zu ihrem Hauptbesitz zählte, gab es die prachtvollsten Höfe und Umzüge in der Stadt. Das Rote Fort blieb bis 1857 in Händen der Mogulen und war bis dahin auch bewohnt.

Wenige Herrscher sind mit dem Roten Fort enger verbunden als der letzte der Mogulen. Bahadur Shah Zafar war ein Mystiker und Poet und er glich sein geschrumpftes Reich, das sich eigentlich nurmehr bis zu den Mauern der Roten Forts erstreckte, mit einem Reich der Sinne und Sinnlichkeiten innerhalb der Mauern aus. Allwöchentlich gab es Dichterwettbewerbe an seinem Hof und Gedichte und Gesänge in Urdu, der persischen Hochsprache der Mogulen und der Elite Delhis, wurden in den Hallen angestimmt. Die Zenanna, das Quartier der Frauen, war gut besucht, lebendig und voller Intrigen. In den Gärten gab es Fontänen und Brunnen und Wasserkanäle, auf die die aus gebirgigen Wüsten stammenden Mogulen besonder stolz waren und die als nicht zu leugnendes Zeichen von Wohlstand und Lebenslust galten. Die langen, heißen Nachmittage hießen ein Zurückziehen in vorhangverhangene Gemächern und wurden dem Opium und dem Schwelgen in Gedanken gewidmet. Es gab Intrigen, Eunuchen, Tänzerinnen, Elefanten, Ställe voller reinrassiger Pferde…nur Regierungsgeschäfte, die gab es für Shah Zafar kaum noch. Die Briten beherrschten damals den Subkontinent und tolerierten den alten Mystiker, weil er keine Bedrohung darstellte, und planten, die Mogulendynastie mit ihm endgültig zu beenden. Der Aufstand von 1857, als Sepoys, Inder im britisch organisierten Militär, revoltierten und mehrere Städte besetzten, machte Shah Zafar für einige kurze Wochen noch einmal zu einem mächtigen Mann – die revoltierenden Sepoys machten ihn zur Galionsfigur ihres Aufstandes. Tagelang schien es als könne sich die Mogulendynastie noch einmal erheben.

Der Aufstand aber wurde niedergeschlagen. Shah Zafar wurde mitsamt den überlebenden Mitglieder seiner Familie ins Exil nach Rangun geschickt wo er starb. Nach ihm war das Rote Fort, zerstört von maraudierenden Sepoys und den Kanonen der Briten, ein Lager für Provisionen und Schießpulver und häßliche Militärbarracken wurden gegenüber der fragilen Sandsteinbauten errichtet.

Bis zur Unabhängigkeit und der Partition, der von den Briten organisierten Teilung der besetzten Territorien ins muslimische Pakistan und das (nominell) hinduistische Indien, blieb Delhi von Gewalt relativ verschont.

Das Chaos von Alt-Delhi lässt sich erklären. Wenn man sich Aufzeichnungen ansieht, die Delhi vor siebzig Jahren beschreiben, dann findet man eine wohlhabende und auch schöne Stadt. Das alte Quartier sei voll gewesen von Havelis wohlhabender Familien. Havelis sind dem unerträglich heißen Klima angepasste Bauten mit fein gestalteten Fenstern, die wie ein Schleier aus Holz den Bewohnern erlauben sollten das Treiben der Strassen unentdeckt zu beobachten. Ein weitläufiger Innenhof spendete Ruhe vor dem Getümmel und hielt den Kern der Familie, das häusliche Leben, von allen neugierigen Augen verborgen. Viele der Familien, die in solchen Bauten wohnten waren Muslime, manchmal sogar alte Adelsfamilien die ihre Herkunft auf die Mogulen zurückführen konnten.

Die von den Briten bestzten Gebiete wurden, als Unabhängigkeitsbestrebungen in Indien stärker wurden und es den Briten aufgrund des Zweiten Weltkrieges unmöglich wurde, ihre Kolonien zu halten, in einen muslimischen und einen indischen Staat geteilt. Pakistan und Hindustan. Die Partition, die Teilung, wurde zur Bluttaufe der beiden Staaten – Spannungen zwischen Muslimen und Hindus waren so gewaltig, dass Millionen Menschen ihr Zuhause verlassen und überhastet fliehen mussten. Muslime aus Delhi und dem Nordwesten flohen in den Sind, nach Pakistan, und Hindus und Sikhs aus Pakistan in den Punjab und nach Delhi. Es kam zu den ersten und schlimmsten der Greueltaten, die unter der Bezeichnung communal unrest –kommunale Unruhen – das gegenseitige Morden von Hindus und Muslimen bezeichnen. Alt Delhi wurde zu einer Flüchtlingszone umfunktioniert und die alten Havelis werden heute ganz gleich den neuen Betonbauten von vielen Familien bewohnt oder sind zu Geschäften und Lagerhallen umfunktioniert worden.

Die Briten errichteten um das India Gate, im südlichen Teil der Stadt, ihr Regierungsviertel. Nach dem Erbauer, dem britischen Architekten Edward Lutyens, ist der Teil der Stadt bis heute als Lutyens‘ Delhi bekannt. Die Bungalows in denen sich früher hohe britische Beamte und Militärs mit ihren Familien vom indischen Alltag isolieren konnten, werden heute von indischen Politikern und deren Familien zum gleichen Zweck genutzt.

Rashtrapati Bhawan ist der Name des Regierungsgebäudes von Delhi. Es dominiert die Parkanlage um das India Gate, den Rajpath. Der Stil des Gebäudes zeigt etwas das den Briten in ihrer Zeit in Indien bis auf einige Ausnahmen nie gelungen ist – eine perfekte Mischung von klassischen europäischen Stilrichtungen und indisch-muslimischer Einflüsse. Die Parkanlage um den Rajpath ist tagsüber bis auf einige Rikshafahrer auf Touristenfang beinahe wie ausgestorben. Am Abend wird die Anlage belebt – Eisverkäufer und Getränkestände tauchen auf um die Familien, die hierher auf ein Picknick kommen zu versorgen. Einmal bin ich dort einer Gruppe hijras über den Weg gelaufen, aber das ist ein Thema für einen anderen Eintrag…

Welcome to India

Indien ist nicht freundlich zu Neuankömmlingen, warnt Suketu Mehta in seinem Buch Bombay: Maximum City. Es gibt einfach zuviel was sie nicht wissen. Begonnen bei schlagfertigen Sandwichverkäufern im Indira Gandhi Airport, die einfach erfragt haben, was denn ein Flughafensandwich in Europa kostet und dann einfach zehn Euro von den leicht schockierten und beklommenen Weißen einstecken, kann Indien ein Kampf für den Unkundigen sein.

Heute hat sich vieles verändert, denn Information fließt leichter und schneller, aber meinen ersten Besuch in Indien in 2003 werde ich in guter Erinnerung behalten.

„Welcome to India“ – ein Kopf schob sich unerwarteter Weise von unten ins Fenster meines Taxis, als ob der Besitzer besagten Kopfes vor dem Wagen am Boden gekauert hatte. Er öffnete mir die Tür und wartete darauf, dass eines meiner Gepäckstücke in Griffweite kam und er es sich über die Schulter schwingen konnte.

Ich war misstrauisch. Es war mein erster Besuch in Delhi. Ich war damals zweiundzwanzig und dachte ich kenne asiatische Verhältnisse von Aufenthalten in Thailand und Malaysien, aber nichts kann einen auf Indien wirklich vorbereiten.

Mein Taxifahrer vermied meinen Blick. Er war schuldbewusst. Zwanzig Minuten zuvor hatte er versucht mich zusammen mit einem Con-Artist, einem Betrüger, in das falsche Hotel zu locken, das ihm und seinem Komplizen ein paar Rupien an Provision anbot, Gäste von außerhalb (und das schließt Inder ebenso ein wie ratlose Europäer) in ihr Hotel zu lotsen. Provisionshaie sind überall in Asien zu finden, aber in Delhi machen sie das ganz unverschämt. Am Flughafen wird das Taxi zwar zumindest nominell von der Polizei kontrolliert, aber so hält der Fahrer einfach an einem Ort knapp nach dem Flughafen, wo eine Gruppe an Männer steht und auf diese Taxis wartet. Kurzerhand springt dann einer von ihnen in das Taxi und beginnt eine Konversation mit dem Neuankömmling. Im Falle von Westlern, die meistens ohnehin bereits in ihrem Reiseführer blättern und verzweifelt nach Tipps suchen, wie man mit so einer Situation denn kulturgemäß fertig werden soll, fällt das nicht schwer. Er sagt er will helfen oder er will sich den Reiseführer ansehen und wenn er dann den Namen des Hotels aus einem herausbekommen hat, dann verzieht er das Gesicht, setzt eine nachdenklich oder abschätzige Miene auf.

„Nein, nein, das Hotel gibt es schon lange nicht mehr.“ „Dort ist alles voll.“ „Das ist letzte Woche abgebrannt.“

Aber kein Problem, er hat eine Lösung. Aufs Stichwort kurvt das Taxi in einen der schäbigeren Bezirke von Delhi. Durch kleine Gassen, vorbei an Schlaglöchern und Schutthaufen. Selbst in der Nacht sind die Strassen belebt. Weigekleidete Gestalten schimmern in den Scheinwerfern auf und verschwinden als Schemen im Dunkel. Die Augen von Kühen oder Hunden strahlen einem aus Sackgassen und leeren Torbögen entgegen. Menschen stehen und starren, scheinbar unbeweglich, am Punkt festgemacht und nur mit Neugierde versehen. Das Taxi holpert weiter und bleibt schließlich vor einer Tür stehen. Ein großes, unbeleuchtetes Schild darüber ist schwer zu entziffern, aber man macht die Worte Hotel oder Lodge oder Guest House aus. Drinnen, hinter der Theke warten schon die Besitzer, auf ihren Gesichtern das vage überlegene Lächeln von Menschen, die sich sicher sind jemanden schon erfolgreich betrogen  zu haben. Nein, das ist nicht das Hotel dass Sie suchen, lieber Gast. Aber wir sind besser. Geben Sie mir einmal die Nummer, bitte.

Der Mann am Check-In Schalter schnappt sich den Reiseführer und als er bemerkt, dass ich ihn genau beobachte hält er sogar seine Hand so, dass ich die Zahlenscheibe des Telefons nicht erkennen kann. Ich kann mir ein Augenrollen kaum verkneifen, denke aber dass das Ganze am Schnellsten vorbei geht, wenn ich mitspiele und sie ins Leere laufen lasse.

Er drückt mir den Hörer in die Hand. Das Guest House in dem ich ein Zimmer bestellt habe und zu dem mich der Taxifahrer eigentlich hätte bringen sollen, das wird von einem tibetischen Paar betrieben aber die Stimme, die sich meldet ist deutlich indisch. Ich frage nach Thupten, dem Namen des Mannes mit dem ich E-Mails ausgetauscht habe. Er habe aufgehört hier zu arbeiten und überhaupt kenne der Mann am anderen Ende der Leitung keinen Thupten aber ich spreche sicher mit dem richtigen Hotel.

Jetzt reißt mir der Geduldsfaden. Ich stelle mir vor, der Mann mit dem ich spreche sitzt irgendwo im nächsten Raum und das selbstgefällige Lächeln auf den Gesichtern um mich wird mir zu blöd. Zuerst fahre ich den Mann über Telefon an, dann den Mann, der mich hergelotst hat. Ich will das idiotische Spiel nur zu Ende bringen, aber der Ärger überkommt mich. Hände werden entschuldigend gehoben, Blicke zu Boden gesenkt. Man führt mich fast freundlich wieder hinaus und zurück in das Taxi, bietet mir eine Zigarette an und das Taxi holpert weiter, diesmal nur mit mir und dem Fahrer. Immer noch zornig, rede ich so lange auf den Fahrer ein, bis er mich bittet doch endlich aufzuhören mit ihm zu schimpfen.

Ich lehne mich zurück, aber der Ärger, angefacht durch die Spannung in einem fremden Land zu sein und die Müdigkeit von einem langen Flug, legt sich nur langsam. Fast wäre ich den Mann, der mich freundlich willkommen heißt und nun meinen großen Rucksack in mein ursprünglich reserviertes Hotel schleppt genauso angefahren.

„Welcome to India.“

Keine Gruppenreisen, kein Luxushotel, keine gemieteten Wägen. Ich reise alleine, bloß mit einem Rucksack und neugierig auf die Welt. Ich reise in klapprigen Bussen, vollgestopften Zügen, Rikshas, schlafe in oft winzigen Räumen. Ich lebe von Tag zu Tag auf den Reisen, weit weg von jeglichem Alltag. Erschöpfend, begeisternd, manchmal gefährlich und immer interessant.